Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
Zettel, kein Buch. Nanna schaut zu Vogel, der in der offenen Tür wartet. Er steht ganz still, mit geschlossenen Augen, als wäre er in Gedanken weit weg. Er lauscht bestimmt. Er lauscht nach einem weit entfernten Ort. Sie öffnet die Schreibtischschublade. Alles ist noch da. Die Handcreme-Tube und die Dose mit den Kräuterbonbons. Mama hat nichts mitgenommen.
»Fride? Komm her, dann kannst du etwas probieren, das Mama gekauft hat«, sagt Nanna und nimmt die Dose.
Fride kommt schnell zu ihr.
»Ist das wahr?«, sagt sie und schaut in die Dose. »Welche Farbe soll ich nehmen?«
»Mama hatte die Roten am liebsten, die Blauen sind auch gut. Aber nimm kein Grünes, die schmecken nach Gras«, sagt Nanna.
Fride nimmt ein Bonbon und schmatzt.
Nanna steckt auch eins in den Mund und ein süßer, würziger Geschmack breitet sich aus.
»Die sind aber nicht sehr lecker«, sagt Fride.
»Nein. Ich habe immer eins bekommen, wenn ich hier alleine war und gemalt habe. Ich mochte sie damals auch nicht so gerne.«
»Hast du die Straßenbahn gemalt?«, fragt Fride.
Nanna schaut zur Pinnwand. In der Mitte hängt ein Bild, das sie gemalt hat. Die Straßenbahn ist grün mit gelben Scheinwerfern, die nach vorne strahlen. Darüber hat sie graue Wolken und große, blaue Regentropfen gezeichnet. Vor der Straßenbahn stehen ein paar Buchstaben und ein grüner Kreis.
»Sie sind jetzt im Untergrund«, sagt Vogel. »Beeilt euch.«
Nanna bleibt stehen und betrachtet das Bild.
»Die Haltestelle«, sagt sie. »Ich habe den Namen auf die Straßenbahn geschrieben. Mama musste mir helfen, ihn richtig zu buchstabieren.«
Sie nimmt das Bild von der Wand. Der Name steht wirklich da. Vorne auf der Straßenbahn. Und er ist grün unterstrichen. Sie steckt die Zeichnung in die Tasche.
»Wir können jetzt gehen, Vogel. Wir wissen, wo wir dieWohnung finden. Der Name unserer Haltestelle steht auf einem Bild, das ich gemalt habe, als ich noch klein war.«
Vogel zögert und mustert sie, bevor er rasch den Flur hinunterläuft.
»Kommt«, sagt er. »Lauft schnell, aber leise. Die Schatten sind auf dem Weg.«
Nanna und Fride folgen ihm. Sie verlassen das Gebäude und als sie draußen sind, fährt Nanna um ein Haar los, obwohl Fride noch gar nicht richtig im Anhänger sitzt. Vogel geht rückwärts und lässt das Krankenhaus nicht aus den Augen, bis er sein Fahrrad erreicht hat. Sie fahren schnell, immer entlang der Straßenbahnlinie. Warme, feuchte Luft streicht ihnen durch die Haare und Nanna dreht sich um und lächelt Fride zu. Vogel hält sich eine Weile hinter ihnen, aber dann überholt er sie und bleibt mitten auf einer Kreuzung stehen.
»Wir müssen hier rein«, sagt Vogel. »Sie können uns zu leicht folgen.«
»Aber wir müssen uns an diese Schienen halten, bis sie die grüne Linie kreuzen«, sagt Nanna.
Vogel schaut sie enttäuscht an.
»Das ist zu gefährlich.«
»Es ist der schnellste Weg zu unserer Wohnung«, sagt Nanna. »Sie wird dir gefallen. Das weiß ich.«
»Ich komme nicht mit in eure Wohnung.«
»Warum nicht?«
Vogel schüttelt den Kopf.
»Das bringt doch nichts«, sagt Vogel traurig.
Nanna legt eine Hand auf seinen Arm.
»Willst du nicht mitkommen, weil wir danach nach Hause fahren?«
Vogel schaut nach unten und dreht sich weg.
»Nein. Es ist mir egal, wohin ihr fahrt.«
»Du kannst uns doch auf die Insel begleiten?«
»Nein. Ich muss in der Stadt bleiben. Es gibt etwas, auf das ich aufpassen muss. Das habe ich doch schon gesagt.«
»Aber was ist das denn? Was ist das, was du nicht zurücklassen kannst?«
»Das kann ich nicht sagen. Ihr müsst hierbleiben, wenn ihr mein Geheimnis sehen wollt.«
Nanna schaut zu Fride.
»Wir fahren jetzt zu unserer Wohnung, nicht wahr, Fride?«
Fride nickt.
»Bitte. Komm doch mit«, sagt Nanna und dreht sich wieder zu Vogel um.
Aber niemand antwortet. Vogel ist weg.
»Hast du gesehen, wohin er verschwunden ist?«, fragt Nanna.
»Nein. Gerade eben war er noch da«, sagt Fride und schaut sich um.
»Psst«, sagt Nanna.
Sie versucht zu hören, in welche Richtung er fährt, aber das Einzige, was sie hört, sind ein paar zerfetzte Plakate hinter der Haltestelle, die im Wind rascheln.
»Sollen wir ihn suchen?«, sagt Fride.
»Nein. Ich denke nicht. Er wäre sowieso nicht bei uns geblieben«, sagt Nanna und fährt los.
Sie folgen den Schienen und biegen auf die grüne Linie ab. An der nächsten Haltestelle schaut Nanna auf den Fahrplan, dann fahren sie in dieselbe Richtung
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