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Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Titel: Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Henrik Nielsen
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draußen ist nur noch Regen und Dunkelheit. Nanna sitzt eine lange Weile ganz still am Fenster und späht in die Nacht.
    »Sind sie immer noch weg?«, fragt Fride nervös.
    »Ja. Leg du dich ruhig hin und schlaf.«
    Erst als der Morgen dämmert, rollt Nanna sich auf dem Bett zusammen und schläft ein.

30
    Mit einem Ruck wacht Nanna auf und glaubt erst, sie hätte geträumt, dass es an die Tür klopft. Sie dreht sich um und schaut Fride an. Die liegt mit weit aufgerissenen Augen neben ihr und kneift den Mund zusammen. Wieder klopft es laut an die Tür. Dann ruft jemand.
    »Nanna! Fride! Macht auf!«
    »Das ist Vogel«, sagt Nanna und spürt, wie die bedrückende Leere in ihr nachlässt.
    Sie rennt in den Flur und öffnet die Tür. Und da steht Vogel. Sie fällt ihm um den Hals und hält ihn lange fest.
    »Wie gut, dass du gekommen bist«, sagt sie. »Wie hast du uns gefunden?«
    »Ich bin euch gefolgt«, sagt Vogel und schaut auf den Boden.
    »Wie gut«, sagt Nanna. »Wie gut, dass du das getan hast.«
    Vogel lächelt matt.
    »Seid ihr auf dem Weg nach Hause?«
    »Ja, aber …«, sagt Nanna. »Komm rein.«
    »Habt ihr die Medizin gefunden?«, fragt Vogel und tritt in die Diele.
    »Nein.«
    »War nichts mehr da?«
    »Ja.«
    »Habt ihr die ganze Wohnung durchsucht?«
    »Ja.«
    »Das dachte ich mir.«
    »Wieso?«, fragt Nanna.
    »Es gibt nirgends mehr Medizin. Sie haben vor langer Zeit alles aufgebraucht. Deshalb bin ich hergekommen, ich muss mit euch reden. Ihr könnt nicht nach Hause fahren.«
    »Warum nicht?«, fragt Nanna und merkt, wie sie langsam wütend wird.
    »Weil es nichts gibt, wohin ihr zurückkehren könnt.«
    »Das kannst du gar nicht wissen.«
    »Doch. So ist es. Und das weißt du auch. Ihr habt mir erzählt, dass kein Essen mehr da ist und euer Vater die Krankheit bekommen hat. Wenn es keine Medizin mehr gibt …«, Vogel macht eine Pause. »Jeder, der die Krankheit hat, stirbt, wenn er nicht genug Medizin bekommt.«
    »Ist Papa tot?«, fragt Fride aus der Tür zum Kinderzimmer.
    »Nein. Und jetzt fahren wir nach Hause. Zeigst du uns den Weg aus der Stadt oder nicht?«, sagt Nanna und schaut Vogel an.
    Vogel schüttelt schwach den Kopf.
    »Heute nicht. Die Schatten waren letzte Nacht unterwegs. Auf den Brücken. Es ist unmöglich, an ihnen vorbeizukommen.«
    »Das glaube ich dir nicht. Gestern war jedenfalls noch nichts zu sehen. Heute Nacht waren die Schatten hier vor dem Haus, aber dann sind sie wieder verschwunden. Du sagst das nur, damit wir nicht gehen«, sagt Nanna.
    »Ihr werden nicht durchkommen. Es ist besser und sicherer für euch, wenn ihr in der Stadt bleibt. Da wissen wir, wo die Schatten sind. Ich würde euch wenigstens gerne noch mein Geheimnis zeigen.«
    »Ich glaube dir nicht. Es gibt gar kein Geheimnis, das du uns zeigen könntest.«
    »Doch, das gibt es. Und es ist so groß, dass es alles verändern wird«, sagt Vogel.
    »Ich will es sehen«, sagt Fride.
    »Es dauert nicht lange«, sagt Vogel. »Wenn ihr immer noch fahren wollt, nachdem ihr es gesehen habt, dann helfe ich euch.«
    Nanna schaut Fride an.
    »Nein. Wir fahren jetzt. Wenn du uns den Weg nicht zeigen willst, finden wir ihn eben alleine«, sagt Nanna und fängt an zu packen.
    »Das könnt ihr nicht machen. Ihr kommt nicht vorbei«, sagt Vogel.
    »Wir fahren trotzdem«, sagt Nanna entschlossen.
    Vogel schaut sie an und schüttelt den Kopf.
    »Ich zeige euch den Weg, aber wenn ihr die Sperren seht, werdet ihr umdrehen.«
    »Danke«, sagt Nanna und geht aus der Tür.
    Sie schaut sich noch einmal um, aber dann dreht sie sich schnell wieder zurück. Sie will nicht weinen. Nicht, solange Vogel es sehen kann.
    Er bleibt stehen und betrachtet die Bilder, die an der Wand hängen.
    »Sind das eure Eltern?«, fragt er.
    »Ja«, sagt Nanna.
    »Ich war schon mal an einem Ort wie diesem«, sagt Vogel.
    Nanna nimmt das Foto von der Wand und packt es in ihren Rucksack. »Jetzt gehen wir«, sagt sie und folgt Fride und Vogel ins Treppenhaus.
    Sie schließt die Tür ab und steckt den Schlüssel zusammen mit dem Ehering in ihre Tasche, dann gehen sie die Treppe hinunter.
    ●
    Nach dem vielen Regen ist die Straße noch nass und die Luft frisch und feucht. Nur langsam wärmt die Sonne den Asphalt, vom Boden steigt ein beinahe durchsichtiger Dampf auf. Vogel fährt vor ihnen her. Er hält eine Hand ausgestreckt als Zeichen, dass sie nicht überholen sollen. Ab und zu bleibt er fast stehen, fährt dann aber doch weiter. Er biegt nicht mehr so

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