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Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Titel: Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Henrik Nielsen
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fragt Fride weiter und dreht sich zu Nanna um. »Warum weinst du denn?«
    »Ach, nichts. Es ist nur so seltsam, wieder hier zu sein. Zu Hause zu sein.«
    »Ich kann es spüren«, sagt Fride. »Ich kann spüren, dass ich hier schon mal war.«
    »Ja?«
    »Ja. Und da ist das Bild, von dem Papa erzählt hat«, sagt Fride und zeigt auf die Fotografie, die an der Wand hängt.
    »Schau mal, so klein warst du«, sagt Nanna und wischt die Tränen weg.
    »Und schau mal Mama. Wie hübsch sie ist.«
    »Ja. Wir nehmen es mit, wenn wir gehen. Aber jetzt müssen wir suchen.«
    Die Wohnung wirkt viel kleiner als früher. Der Flur zu den Schlafzimmern ist schmaler, die Haken hängen tiefer und die Diele ist enger. Nanna schaut auf den Boden. Hier war so viel Platz zum Spielen, aber jetzt reicht er kaum für sie beide. Sie wirft einen Blick in die Küche.
    Die hohen, blauen Schränke reichen bis zu den Stuckrosetten an der Decke. In der Ecke steht ein schwarzer Holzofen. Ein großes Fenster geht nach hinten zum Hof. Die Küchenzeile ist leer, als wäre sie nie benutzt worden. Aber auf dem Tisch unter dem Fenster steht noch benutztes Geschirr. Die Innenseite des Glases ist braun und auf dem Teller liegt der vertrocknete Rest einer Scheibe Brot.
    Nanna geht ins Wohnzimmer. Die Vorhänge sind zugezogen. Sie geht an eines der Fenster und zieht den Vorhang auf. Graues Licht fällt in die Wohnung. Auf dem blauen Sofa liegt Mamas Decke und daneben, ganz unten im Bücherregal, stapeln sich die Kinderbücher. Der halbe Esstisch ist mit Papas Kunstbüchern belegt. Das Klavier steht an der Wand, aber Nanna kann sich noch nicht überwinden, den Deckel zu öffnen.
    »Was war das?«, ruft Fride in der Küche.
    »Ich habe den Vorhang aufgezogen. Wir brauchen ein bisschen mehr Licht, wenn wir vernünftig suchen wollen.«
    »Wo ist unser Zimmer?«, fragt Fride.
    »Hier«, sagt Nanna und geht zurück in die Diele.
    Am Ende des langen Flurs steht eine Tür einen Spaltbreitoffen. Sie gehen in das kleine Zimmer. An einer Wand steht ein Kinderbett, an der anderen ein Gitterbett. Es gibt ein Bücherregal und über dem Gitterbett hängt ein Mobile mit Sternen und Monden. Unter dem Fenster steht eine kleine Bank.
    »Hier haben wir gewohnt«, sagt Nanna.
    »Das weiß ich. Ich kann mich erinnern.«
    »Du kannst dich nicht erinnern. Du warst winzig klein.«
    »Doch. Ich erinnere mich«, sagt Fride gekränkt. »Das tue ich.«
    »Ja. Das tust du«, sagt Nanna und geht zum Fenster. Sie schaut nach draußen.
    Der Kindergarten mit dem grünen Schiff liegt verlassen in dem kleinen Park und die Straßen sind leer. Aus den Wolken fallen große Regentropfen.
    »Hier ist es so schön«, sagt Fride.
    »Ja. Richtig gemütlich.«
    »Da habe ich geschlafen«, sagt Fride und legt eine Hand auf das Gitterbett.
    »Ja. Und ich weiß noch, dass ich fand, du würdest ganz schön laut schnarchen. Zumindest dafür, dass du so klein warst.«
    »Wirklich?«
    Nanna nickt. Und denkt, dass sie es jetzt nicht mehr länger aufschieben können.
    »Das Klavier steht im Wohnzimmer«, sagt sie. »Bist du so weit?«
    »Ja«, sagt Fride.
    Das Klavier ist schwarz und auf dem Notenständer stehen Mappen mit Noten und losen Blättern.
    »Wer hat Klavier gespielt?«, fragt Fride.
    »Mama«, sagt Nanna. »Wir müssen den Deckel anheben. Ich weiß noch, wie der Klavierstimmer ihn einmal aufgeklappt hat.«
    Eifrig klettert Fride auf den Klavierhocker und weiter auf das Klavier. Sie stellt sich auf die Tasten und Töne klingen durch den Raum.
    »Leise, bleib stehen«, flüstert Nanna. »Heb den Deckel da an, wo er ein kleines Stück vorsteht.«
    Fride hebt den Deckel an und hält ihn hoch, während sie mit der Hand im Inneren sucht.
    »Ist da was?«, fragt Nanna.
    »Ja, jede Menge Kabel.«
    »Das heißt Saiten. Die machen die Töne.«
    Fride tastet mit der freien Hand weiter.
    »Der Deckel ist schwer und ich kann nichts finden«, sagt sie.
    »Bist du sicher?«, fragt Nanna.
    »Ja.«
    »Mach mal Platz.«
    Sie tauschen den Platz und Nanna schaut ins Klavier. Aber auf den Stahlsaiten liegt nichts. Sie versucht zu ertasten, ob etwas nach unten gerutscht ist und bewegt die Hand vor und zurück. Die Saiten klingen leise.
    »Gib mir die Taschenlampe«, sagt Nanna.
    Fride holt die Taschenlampe aus dem Rucksack und Nanna leuchtet nach unten, aber sie sieht nur Saiten.
    »Hier ist nichts«, sagt Nanna und setzt sich auf den Boden.
    Fride setzt sich neben sie.
    Drückende Enttäuschung breitet sich in Nanna aus.

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