Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
sie Nanna an, bevor sich ihr Gesicht plötzlich verändert.
»Wer ist das?«, fragt sie.
Nanna dreht sich um und sieht Vogel, der aus dem Schatten getreten ist.
»Das ist Ask. Er ist ein Freund.«
Vogel nickt Mama zu, aber er bleibt in der dunklen Öffnung stehen.
»Wie schön«, sagt Mama. »Wo kommt er her? Hat er bei euch gewohnt?«
»Nein, er kommt aus der Stadt. Er war die ganze Zeit hier.«
»In der Stadt?«, fragt Mama.
Nanna schaut in den dunklen Durchgang hinter Vogel, aber sie kann Fride nicht sehen.
»Fride ist auch hier«, sagt sie.
Mama sieht sich um, als würde sie es nicht ganz verstehen.
»Sie ist da drinnen«, sagt Nanna. »Fride? Komm raus. Mama ist hier.«
Kein Laut dringt aus dem Bunker.
»Komm schon, Fride. Es ist Mama.«
Dann hören sie vorsichtige Schritte in der Dunkelheit. Fride linst um die Ecke. Sie schaut auf den Boden und versteckt das Gesicht hinter den Händen.
Nanna geht zu ihr und hockt sich neben sie.
»Es ist Mama. Sie lebt.«
»Bist du sicher?«, fragt Fride durch die Finger.
»Ja, Fride. Ganz sicher.«
»Dann bist du also Fride«, sagt Mama lächelnd.
Fride schaut sie an und nickt, dann senkt sie wieder den Blick. »Wie groß du geworden bist. Du warst ja noch ein kleines Baby.«
»Du siehst ganz anders aus als auf den Bildern«, sagt Fride.
»Ja«, sagt Mama und lacht leise. »Da hast du wohl recht.«
Mehr sagt sie nicht. Sie setzt sich nur hin und streckt die Arme aus. Fride geht langsam auf sie zu und wirft einen Blick zurück zu Nanna. Dann macht sie einen schnellen Schritt und presst sich fest an ihre Mutter.
»Oh, wie hübsch du bist«, sagt Mama und legt ihren Kopf an Frides.
»Mama?«, sagt Fride vorsichtig.
»Ja.«
»Kannst du dich an mich erinnern?«
»Natürlich erinnere ich mich an dich, mein Mädchen.«
»Ja, aber ich war doch noch so klein.«
»Ich erinnere mich an alles«, sagt Mama. »Du warst so ein perfektes Baby. Ich habe mich oft gefragt, wie du geworden bist. Und was du gerne machst.«
»Ich male gerne«, sagt Fride.
»Und was malst du am liebsten?«
»Meinen Fantasieschmetterling, Plim, und Sachen aus dem Meer. Tintenfische und so was.«
»Wie schön. Ich male auch gerne. Ganz besonders Sachen aus dem Meer«, sagt Mama und hält sie lange fest. Dann schaut sie zu Nanna hoch. »Wie lange seid ihr schon in der Stadt?«
»Erst ein paar Tage. Für den Weg vom Haus hierher haben wir drei Tage gebraucht.«
»Das habt ihr toll gemacht. Und alles ganz alleine?«
»Wir waren gar nicht so toll«, sagt Nanna und schaut nach unten.
»Nein? Wieso nicht?«
Nanna braucht einen Moment, bevor sie es schafft, zu antworten.
»Papa ist krank. Deshalb sind wir hergekommen. Um Medizin zu holen. Er ist auf der Insel geblieben. Er wird sich so freuen, dich zu sehen.«
Mama nickt schwach.
»Wann ist er krank geworden?«, fragt sie.
»Kurz bevor wir aufgebrochen sind. Er wollte eigentlich in die Stadt, um Essen zu holen. Es war fast nichts mehr übrig.«
Mama sagt nichts. Sie streichelt Frides Rücken.
»Wir sind in die Stadt gekommen und haben Ask getroffen. Er ist der Einzige, der hier lebt, und wir wollten eigentlich heute zu Papa zurück, aber dann haben wir gemerkt, dass du … das heißt, wir wussten ja nicht, dass du es warst. Wir mussten ja herausfinden, wer du bist.«
Mama lächelt und nimmt Nannas Hand.
»Wir haben den Zettel im Krankenhaus gefunden, den du geschrieben hast. Dass alle evakuiert worden sind. Bist du mit den anderen zusammen weggegangen?«
»Ja«, antwortet Mama. »Ich durfte nicht bleiben.«
»Wo warst du?«, fragt Nanna.
»Weit weg«, sagt Mama. »Viel zu weit weg.«
Sie schaut Nanna lange an. Das fühlt sich ungewohnt an und schön zugleich.
»Vielleicht sollten wir uns ans Feuer setzen und etwas essen, dann versuche ich, euch alles zu erklären«, sagt Mama.
Graue Wolken jagen über den Himmel. Es ist rau und kalt und alles ist feucht. Der Beton hat rostige Streifen. Nanna und Fride setzen sich dicht nebeneinander ans Feuer, das ihre Beine wärmt. Vogel klettert die Leiter hoch und späht in die Stadt.
»Du musst nicht mehr nach Schatten suchen«, sagt Nanna, aber sie bereut es sofort, als sie sein Gesicht sieht.
»Was für Schatten?«, fragt Mama.
»Ach nichts«, sagt Nanna. »Wir haben uns nur was ausgedacht.«
»Ach so«, sagt Mama und packt Konservendosen mit Spaghetti und Fleischbällchen aus, die sie in die Glut legt.
»Komm doch zu uns«, sagt Nanna zu Vogel.
Vogel schüttelt den
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