Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
eigenen Atem, das Meer und den Wind.
»Kommt«, sagt Vogel und geht los.
Er nimmt Nannas Hand.
»Halt du Fride fest«, sagt er.
Nanna nimmt Frides Hand und schon wird sie in die Dunkelheit gezogen. Es ist unmöglich zu sehen, wo Wände sind oder die Decke. Es riecht faulig, genau wie zu Hause im Brunnenraum. Je weiter sie nach oben in den Felsen steigen,umso leiser werden die Geräusche von Meer und Wind und das Einzige, was noch zu hören ist, sind ihre Schritte und ihr Atem.
»Wir sind bald oben. Gleich kommt eine Treppe«, sagt Vogel und lässt Nannas Hand los.
Sie stolpert und stößt sich die Beine an den Treppenstufen. Sie krabbelt weiter, Fride direkt hinter sich. Der raue Beton zerkratzt ihre Knie. Durch eine längliche Schießscharte über der Treppe sickert schwaches, gelbes Licht. Nanna bleibt stehen und nimmt Fride wieder an die Hand. Vogel tastet sich vorsichtig zum Ausgang vor.
Für einen Augenblick sieht Nanna sein Gesicht. Er hat Todesangst. Nanna spürt, wie Panik sie erfasst, und ihr Atem geht schneller. Sie hatte geglaubt, mit Vogel zusammen wären sie sicher. Dass er in Wirklichkeit wusste, wer mit den Lampen geblinkt hatte. Aber er weiß es nicht. Außer ihnen ist niemand in der Stadt gewesen. Bis jetzt.
Der flackernde Lichtschein erhellt den Bunker. Überall sind Namen und Zahlen mit Ruß an die Decke geschrieben worden. Nanna schleicht sich vorsichtig zu Vogel und schaut nach draußen. In einem betonierten Graben, aus dem eine Eisenleiter ragt, brennt ein kleines Lagerfeuer. Sonst ist alles leer.
»Siehst du jemanden?«, flüstert Nanna.
»Nein. Aber es muss jemand in der Nähe sein. Das Feuer ist gerade erst angezündet worden. Ich glaube nicht, dass es viele sind.«
Fride kommt zu ihnen und reckt sich, um besser sehen zu können.
»Das ist aber gemütlich mit dem Feuer«, sagt sie.
»Leise«, flüstert Nanna.
Fride versteckt den Kopf hinter ihrer Schwester.
Neben der Schießscharte ist ein Durchgang, in dem früher mal eine Tür gewesen sein muss. Nanna presst sich an die kalte Betonwand und späht durch die Öffnung, um besser sehen zu können. Im Lichtschein des Feuers kann sie einen Schlafsack erkennen, der neben einem großen Betonblock liegt.
Hinter dem Bunker biegen sich die schwarzen Umrisse der Bäume im Wind.
Plötzlich bemerkt sie eine Bewegung, die nicht da sein dürfte. Einen Schatten, der sich in einem anderen Rhythmus bewegt als die andern Schatten. Blitzschnell zieht Nanna ihren Kopf zurück. Am liebsten würde sie sich nach unten in die Dunkelheit flüchten, aber sie zwingt sich, ganz still stehen zu bleiben.
Fride krallt ihre Finger so fest in Nannas Bein, dass es wehtut. Eine Gestalt klettert mit dem Rücken zu ihnen die eiserne Leiter nach unten und geht zum Feuer. Für einen kurzen Moment sieht Nanna das Gesicht im Licht der Flammen. Ihr wird schwindelig und sie legt die Wange an das kalte Metall neben der Öffnung. Sie tastet nach dem Ring in ihrer Tasche.
Dann geht sie ins Licht.
34
Die Frau zieht ein Messer aus dem Gürtel und hält es schützend vor sich. Nanna steht ganz still und schaut sie an. Mit einem Mal wird die Frau unsicher. Dann lässt sie das Messer sinken und auf den Boden fallen.
Sie sieht älter aus und erschöpft, denkt Nanna. Und so einsam. Aber sie hat nach ihnen gesucht. Deshalb hatte Nanna das Blinken vom Haus aus gesehen. Das Blinken galt ihnen.
»Mama, ich bin es. Nanna.«
Mama schlägt die Hände vor den Mund, als könnte sie nicht glauben, was sie sieht. Sie versucht etwas zu sagen, aber sie schafft es nicht und fängt an zu weinen.
»Nanna?«
Nanna lächelt und nickt und Mama lächelt vorsichtig zurück. Sie geht langsam auf Nanna zu und nimmt sie in den Arm, drückt sie fest an sich und lässt sie lange nicht mehr los.
»Bist du es wirklich?«, sagt sie. »Ich hatte solche Angst, du wärst für immer verschwunden.«
Nanna kann die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie schluchzt und presst ihr Gesicht an Mamas Brust. Es ist nochderselbe Geruch, an den sie sich erinnert, und sie spürt, wie sie am ganzen Körper ruhig und warm wird.
»Ich dachte, du wärst weg«, sagt sie. »Du warst doch weg. Du warst so lange weg.«
»Mein Mädchen«, sagt Mama und streicht ihr über den Kopf.
»Wir dachten, du wärst tot. Wir haben sogar deinen Ring gefunden. Hier.«
»Oh, danke«, sagt ihre Mutter. »Ich dachte, ich hätte ihn verloren.«
Mama steckt sich den Ring an und streichelt ihn mit der Fingerspitze. Lächelnd schaut
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