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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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überallhin zu begleiten, oblag seitdem allein Fred. Bills Brief hatte in den vergangenen Monaten seine bedrohliche Wirkung verloren und klang nun nur noch wie eine sadistische Wichtigtuerei. Die Maschen des Schutznetzes hatten sich geweitet, doch Ruth fühlte sich auch durch Freds ständige Anwesenheit massiv in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt. Und mit jedem Tag wurde der Wunsch, frei zu sein, stärker in ihr.
    Der Großvater war nun seit drei Monaten tot, und noch immer fand sie nicht zurück ins Leben. Die Leere, die er in ihrem Herzen hinterlassen hatte, ließ sich durch nichts füllen. Ruth war noch verschlossener geworden. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein seit dem Abend, an dem sie als Dreizehnjährige heimlich mit Bill ausgegangen war. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein – dabei waren es nicht einmal zwei Jahre –, und es war, als hätte es dieses unbedarfte Mädchen, das Abenteuer, Lachen und Fröhlichkeit gesucht hatte, nie gegeben. Bill hatte sie für ihr Leben gezeichnet. Und der Tod des Großvaters hatte sie in noch tiefere Einsamkeit gestürzt.
    An diesem Tag also hatte Ruth beschlossen, sich ein kleines Stück ihres alten Lebens zurückzuerobern. Fred hatte sie gesagt, er solle sie um fünf Uhr abholen, doch um vier Uhr stand sie bereits draußen vor der Bibliothek. Sie wollte endlich einmal wieder allein durch die Straßen laufen. Allein einen Schaufensterbummel unternehmen. Wie ein ganz normales Mädchen. Anschließend würde sie nach Hause gehen und sich für die nachmittägliche Verabredung mit Christmas zurechtmachen, dem einzigen Menschen, bei dem sie sich frei fühlte. Dem einzigen, den sie zugleich liebte und hasste. Alle anderen schienen für sie gar nicht mehr zu existieren.
    Während sie die Gehwege entlanglief, stellte sie sich vor, wie sie eines Tages zu Christmas gehen würde. Bis in seine Straße, zu ihm nach Hause. Allein. Vielleicht würde sie auch seine Mutter, die Prostituierte, kennenlernen. Und sie würde wieder ein ganz normales Mädchen sein. Es würde ihr keine Angst machen, durch die bedrohliche Lower East Side zu laufen – den Ort, der ihrem Zuhause so nah und doch so fern war, dass keiner ihrer Freunde je einen Fuß dort hineingesetzt hatte, so fern, dass die, die etwas zu berichten wussten, darüber sprachen, als entstammte der Ort der Mythologie oder der Hölle –, denn Christmas würde sie beschützen. Und wie sie so in aller Ruhe über die 5th Avenue schlenderte, war sie ganz sicher, dass sie nicht zögern würde, das verrufene Viertel zu betreten. Sie würde sich nicht wie ein kleines Mädchen fühlen, das verängstigt vor einem bedrohlichen Wald steht; Ruth war ganz sicher, dass sie die gefährliche Grenze überschreiten würde, hinter der wilde Tiere lebten und Schlangen aus finsterem Astgewirr herabbaumelten; sie war ganz sicher, dass sie sich nicht vor den Lauten der geheimnisvollen Tiere erschrecken würde, die, für das Auge unsichtbar, mit unheimlichem Rascheln durch den Laubteppich huschten. Und sie würde keine Dämonen, gequälte Gespenster, Zauberer oder Hexen fürchten. Weil Christmas bei ihr sein würde.
    Auf ihrem Heimweg – der sie am Tempel in der 86th Street vorbeiführte, der Synagoge, die ihr Großvater besucht hatte –, lächelte Ruth ihrem Spiegelbild in einem eleganten Schaufenster zu. Nein, sie würde keine Angst haben, weil Christmas bei ihr sein würde, der Kobold aus der Lower East Side.
    Voller Elan und Begeisterung, die sie so seit Monaten nicht mehr empfunden hatte, betrat sie die Wohnung. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so viel Lebenslust und Lebensfreude verspürt zu haben. Und sie dankte ihrem Schicksal, dass es sie mit dem einzigen guten Kobold aus dem verbotenen Reich der Lower East Side zusammengeführt hatte.
    Die Eltern waren gewiss nicht zu Hause, dachte sie. Ihr Vater hatte in der Fabrik zu tun, ihre Mutter gab in irgendeinem Geschäft sinnlos Geld aus. Und zum ersten Mal war sie beiden dankbar für die Gleichgültigkeit, die sie ihr entgegenbrachten und unter der sie sonst immer litt. Ruth lief ins Bad der Mutter und begann, aufgeregt wie eine Diebin bei ihrem ersten Coup, in den Schubladen zu kramen. Die Menge an Kosmetika überraschte sie. War es das, was eine Frau ausmachte? Ruth hielt inne und betrachtete sich im Spiegel. Sie wusste nicht, ob sie bereit war. Ihr Körper hatte sich vollkommen verändert. Sie wusste, dass sie zur Frau geworden war. Aber sie wusste nicht, ob sie wirklich bereit

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