Der Junge, der Träume schenkte
junger Leute, die auf der Wiese saßen und über etwas lachten, das sich offenbar ein Stück entfernt an einem Baum abspielte. Neugierig geworden, folgte Ruth den Blicken der anderen, und dann sah sie sie auch. Cynthia Siegel und Benny Dershowitz küssten sich. Küssen war zurzeit unter ihren Klassenkameradinnen ein großes Thema. Auch Ruths einzige Freundin, Judith Sifakis, hatte schon einmal einen Jungen geküsst. Sie hatte es ihr in allen Einzelheiten erzählt. Ruth wandte den Blick von Cynthia Siegel und Benny Dershowitz ab.
Sie selbst wollte nur einen einzigen Jungen küssen, und das war Christmas. Und aus dem Grund hasste sie ihn. Weil sie anders war als alle anderen, weil sie neun Finger hatte und nicht zehn. Aber sie musste ständig an Christmas denken. Bei ihm allein fühlte sie sich frei. Doch neuerdings versuchte sie, ihm auszuweichen; sie wollte ihm nicht länger Vertrauen schenken. Christmas bedeutete eine Gefahr für sie. Die Liebe war schmutzig, und Ruth wollte nicht mehr beschmutzt werden. Aber wenn Christmas bei ihr war, spürte sie es auf ihren Lippen und weiter unten, zwischen ihren Beinen. Dann hatte sie ein Gefühl, als krabbelten tausend Ameisen unter ihrer Haut. Und auch aus diesem Grund hasste sie ihn.
In letzter Zeit jedoch war da noch etwas anderes an Christmas, was sie verstörte. Seine wundervollen, so heiteren und klaren Augen hatten sich verfinstert und erinnerten sie manchmal an Bills düsteren Blick. Manchmal war Christmas kaum wiederzuerkennen und wirkte geradezu geheimnisvoll. Überhaupt fand Ruth ihn viel männlicher als ihre reichen Klassenkameraden. Diese Tatsache verstörte sie nicht nur, sondern verstärkte auch ihren Wunsch, ihn zu küssen und sich seiner Umarmung hinzugeben. Und je größer ihr Verlangen wurde, desto kälter verhielt sie sich Christmas gegenüber, damit er nichts von ihren verstörenden Gefühlen merkte.
»He, schläfst du? Es hat längst geläutet.«
Beim Klang der Stimme schlug Ruth ihr Tagebuch zu. Eine der neun getrockneten Blumen fiel zu Boden.
Der Junge kam näher. Es war Larry Schenck, einer der bestaussehenden Jungen der Schule. Er war sechzehn. Larry hob die Blume auf und reichte sie Ruth. »Alles-in-Ordnung-Miss-Isaacson ist also verliebt«, bemerkte er grinsend. »Und wer ist der Glückliche?«
Ruth zerbröselte die Blume. »Niemand«, erwiderte sie, stand auf und ging zurück in ihre Klasse.
»Hallo, Greenie.« Christmas hatte soeben die Fabrik des alten Saul Isaacson betreten, als ihm der Mann in dem grünen Seidenanzug über den Weg gelaufen war. »Ist Ruth in Sicherheit?«
Greenie musterte ihn, antwortete aber nicht.
»Habt ihr die Ratte erwischt?«
Greenie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das vor Pomade glänzende Haar.
Christmas verzog das Gesicht und machte sich dann zum Büro des Alten auf, der ihn hatte rufen lassen.
»Es gibt zwei Wege, zum Geschäftsleiter aufzusteigen«, erklärte der Eigentümer der Saul Isaacson’s Clothing Christmas nach kurzer Begrüßung. »Der eine beginnt im Dunkeln, im Lager, im Herzstück des Geschäfts, wo die Ware verstaut wird; dort lernt man, was benötigt wird, dort kann man seinen Marktinstinkt unter Beweis stellen. Der andere beginnt hinter der Ladentheke, im direkten Kontakt mit den Kunden; dabei lernt man zu verstehen, wie die Menschen sind, was sie sich wünschen und wie man sie manipulieren kann. Diese beiden Ausbildungswege sind sehr verschieden. Ein guter Leiter aber muss beide Bereiche des Geschäfts beherrschen. Wer als Lagerist angefangen hat, muss die Menschen verstehen lernen, sonst wird er ein Leben lang von seinen Verkäufern abhängig sein; wer hingegen Verkäufer war, muss lernen, das Lager zu verwalten, sonst wird er immer vom Lageristen abhängig sein. Weißt du, welcher Typ Geschäftsleiter du sein könntest?«
»Wieso sollte das für mich wichtig sein?«
»Weil du die richtige Wahl treffen wirst, wenn du im Leben weißt, wer du sein könntest.«
»Ich kann gut mit Leuten reden.«
»Ja, das ist mir aufgefallen. Nun, aus dem Grund habe ich dich rufen lassen: Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Ich bin dabei, ein Einzelhandelsgeschäft zu eröffnen, und brauche Verkäufer und Lageristen. Normalerweise nehme ich Leute mit einem Minimum an Erfahrung, aber ich habe beschlossen, in deinem Fall eine Ausnahme zu machen. Willst du eine Stelle als Verkäufer? Falls du deine Karten richtig auszuspielen weißt, könntest du einmal Geschäftsleiter
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