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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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der Bank aufgestanden und bis zur Ecke Central Park West und 72nd Street gelaufen, wo sie sich die erste Zeit getroffen hatten. Und dann war er wieder zur Bank zurückgerannt, da er, für den Fall, dass Ruth inzwischen gekommen war, befürchtete, sie würde wieder gehen, wenn sie ihn nicht antraf. Da hatte er Fred entdeckt. Mit einem Brief in der Hand.
    Vergiss mich. Es ist aus. Leb wohl, Ruth.
    Lange hatte er auf der Bank – ihrer Bank – gesessen und den Brief in den Händen gedreht, ihn zusammengerollt, zerknüllt, auf den Boden geworfen und wieder aufgehoben und ihn am Ende stets aufs Neue gelesen, als hoffte er, auf diese Weise könnten die wenigen Buchstaben durcheinandergewürfelt werden und andere Worte bilden. Nach zwei Stunden spürte er schließlich, wie ein tiefer Zorn in ihm hochkochte. Er lief quer durch den Park und über die 5th Avenue hinüber bis zur Park Avenue.
    Der Portier in Uniform hielt ihn sofort auf. Über eine Sprechanlage rief er dann in der Wohnung der Isaacsons an. »Ein Junge namens Christmas fragt nach Miss Ruth«, gab er durch. Stocksteif lauschte er der Antwort. »Sehr wohl, gnädige Frau, und verzeihen Sie die Störung«, sagte er, bevor er die Verbindung beendete. Daraufhin wandte er sich an Christmas und berichtete mit unangenehm näselnder Stimme: »Madame Isaacson sagt, das Fräulein sei sehr beschäftigt, und lässt Sie bitten, sie nicht auch noch zu Hause zu belästigen.«
    »Ruth soll es mir ins Gesicht sagen!«, grollte Christmas, schwenkte den Brief in der Luft herum und trat einen Schritt vor.
    Der Portier ließ ihn nicht durch. »Zwingen Sie mich nicht, die Polizei zu rufen.«
    »Ich will mit Ruth sprechen!«, rief Christmas.
    In dem Moment betrat eine elegante alte Dame den Hausflur und sah Christmas entrüstet an.
    »Guten Abend, Mrs. Lester«, begrüßte der Portier sie mit einer leichten Verbeugung. »Ich habe Ihnen Ihre Zeitschriften besorgt.«
    Die alte Frau verzog die runzligen Mundwinkel zu einem gezwungenen Lächeln. Dann ging sie weiter zum Fahrstuhl, wo der Liftboy sie in strammer Haltung erwartete.
    Ohne sein Lächeln zu verlieren, beugte sich der Portier da zu Christmas vor und sagte: »Zisch ab, Wop, oder es gibt Ärger.« Er richtete sich wieder auf, verschränkte die Hände vor der Brust und setzte wieder die freundlich-nichtssagende Miene eines Portiers in der Park Avenue auf.
    So machte sich Christmas ohne Eile auf den Weg zurück in sein Ghetto. Er war außer sich vor Wut. Was bildete Ruth sich ein? Dass sie ihn wie einen Sklaven behandeln durfte? Nur weil sie reich und er ein armer Schlucker war? Solche Spinnereien würde er ihr schon austreiben. Bis zum gestrigen Tag noch schien sie – auch wenn sie es mit aller Kraft zu verbergen suchte – ihn mit dem gleichen absoluten und überwältigenden Gefühl zu lieben, das er von dem Moment an empfunden hatte, als er sie gesehen hatte, hinter einem Schleier aus geronnenem Blut, ohne zu wissen, wer sie war, und ohne danach zu fragen. Er hatte gespürt, dass er ihr gehörte. Vom ersten Moment an, seit er sie in seinen Armen getragen hatte, als wäre sie ein kostbarer Schatz. Und mit diesem Brief meinte Ruth, nun alles beenden zu können? Leb wohl. Christmas trat gegen ein abgebrochenes Stück Asphalt.
    »He, pass doch auf, Junge«, sagte ein Mann um die vierzig in einem grauen Anzug und einem Mantel mit Pelzkragen, den der Stein gestreift hatte.
    »Was zum Teufel willst du?«, raunzte Christmas ihn an und gab ihm einen Schubs. »Was hast du vor, du Scheißkerl? Glaubst du, mit deinem Mäusefell machst du mir Angst?« Zornig versetzte er ihm einen weiteren Stoß. »Hältst du dich für was Besonderes? Willst du Prügel beziehen? Soll ich dich ausrauben? Willst du Weihnachten im Krankenhaus verbringen?«
    »Polizei! Polizei!«, rief der Mann.
    Sofort ertönte der Pfiff eines Polizisten.
    Christmas spuckte dem Mann mit dem Pelzmantel ins Gesicht und rannte los, so schnell er konnte, bis er das Pfeifen des Polizisten, der seine Verfolgung aufgenommen hatte, nicht mehr hörte. Da blieb er stehen und schnappte, die Hände auf die Knie gestützt, nach Luft. Ringsum sah er nur gut gelaunte Menschen, Männer und Frauen, die, bepackt mit Paketen und Päckchen, nach Hause gingen. Für all diese Menschen war Weihnachten, nur nicht für Christmas.
    »Zur Hölle mit euch allen!«, schrie er. Und seine Augen füllten sich mit Tränen, gegen die er sofort ankämpfte. »Du bist es nicht wert, Ruth, dass ich um dich weine«,

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