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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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war, eine Frau zu sein.
    All die kindliche Freude, die sie bis zu diesem Augenblick angetrieben hatte, verschwand mit einem Mal. Sie spürte, dass ihre Gedanken nicht mehr die eines Mädchens waren, dass es ihr nicht mehr gelang, die neuen Regungen zu unterdrücken. Und die Freude wich einem fremden, brennenden, dunkleren Gefühl, dem etwas Geheimnisvolles anhaftete. Gleich einem Sog, einem Taumel.
    Mit einer Hand strich sie über ihre Brust, dort, wo der Verband drückte, der sie wie einen Jungen aussehen ließ. Sie zog die dunkelblaue Kaschmirstrickjacke aus und knöpfte dann langsam ihre weiße Bluse auf. Abermals betrachtete sie sich. Zaudernd knotete sie den Verband auf und begann, ihn abzuwickeln. Die erste Lage, die zweite, die dritte, die vierte und schließlich die fünfte. Fünf Lagen Mull, die bewirken sollten, dass sie nicht aussah wie eine Frau, dass sie nicht aussah wie sie selbst. Wieder betrachtete sie sich. Nackt. Ihre kleinen Brüste waren vom Druck gerötet. Wo die Verbandränder eingeschnitten hatten, zeigten sich tiefe waagerechte Streifen. Da streichelte sie sich erneut. Doch nun berührte sie ihre Haut.
    Bist du bereit, eine Frau zu sein?, fragte sie sich fast so, als erhoffte sie mit der Frage zugleich die Antwort zu bekommen.
    Am Brustansatz hielt ihre Hand inne. Schließlich glitt sie hinauf zur Brustwarze. Ruth durchfuhr ein sehnsuchtsvoller Schauer, als löste sich in ihrem Inneren etwas, und sie schloss die Augen. Inmitten der verzehrenden und unerwarteten Dunkelheit tauchte Christmas’ Gesicht vor ihr auf, sein weizenblondes Haar, seine glänzenden Glutaugen. Sein offenes Lächeln, seine wohltuende Art. Wohltuend wie die Hand auf ihrer Brust, die Fingerspitzen an ihren Brustwarzen.
    Ruth riss erschrocken die Augen auf. Sie hatte die Antwort bekommen, die sie gesucht und die sie gefürchtet hatte.
    Sie war bereit, eine Frau zu werden.
    Aber nicht sofort, sagte sie sich selbst, ohne den Blick von ihrem Spiegelbild abwenden zu können, das sie so nackt, so hingebungsvoll zeigte. Sinnlich. Nicht sofort, dachte sie. Und ihr war, als zitterte auch der Gedanke, so wie ihre Stimme gezittert hätte, hätte sie die Worte laut ausgesprochen.
    Der Schmutz, mit dem Bill sie beworfen hatte, war wie die Blutspur, die er zurückgelassen hatte, noch immer da, verborgen zwischen ihren Beinen, eingebrannt in ihren Blick. So hob sie die Mullbinde auf, die sie auf den Boden hatte fallen lassen, und wickelte sie erneut um sich. Der Verband war nicht so eng wie zuvor. Er lag weich an wie eine sanfte Berührung. Wie die Erinnerung an etwas, das sie beschützen sollte, warm, tröstlich. Sie brauchte keine Angst vor dem zu haben, was sich in ihren Gedanken abspielte. Vor dem Beschluss, den sie gerade gefasst hatte.
    Sie zog sich wieder an, schaute erneut in die Schubladen der Mutter und puderte sich zart das Gesicht. Den Augenlidern gab sie einen kaum wahrnehmbaren bernsteinfarbenen Schimmer. Sie kämmte sich das Haar und band zwei rote Satinschleifen in ihre schwarzen Locken. In ihrem Zimmer parfümierte sie sich mit Chanel Nº 5, dem letzten Geschenk ihres Großvaters. Anschließend kehrte sie noch einmal zurück ins Bad der Mutter und öffnete ein kleines schwarzes Etui. Sie trat an den Spiegel heran und legte mit zitternder Hand einen Hauch Lippenstift auf.
    Vielleicht würde sie nämlich noch am gleichen Tag Christmas, den Kobold, küssen.
    »Wir müssen mit dir reden, Schatz«, ließ sich der Vater aus dem Salon vernehmen, während Ruth sich an der Garderobe ausgehfertig machte, um pünktlich zu ihrer Verabredung im Central Park zu kommen.
    Ruth zuckte zusammen. Sie war gar nicht allein in der Wohnung. Hastig zog sie die roten Bänder aus ihrem Haar und wischte sich in fieberhafter Eile das Make-up aus dem Gesicht. Sie holte tief Luft und ging mit klopfendem Herzen in den Salon.
    Ihr Vater und ihre Mutter saßen, die Hände im Schoß verschränkt, mit beiläufigen Mienen jeder in seinem Sessel.
    Und da erst bemerkte Ruth, dass die Teppiche zusammengerollt in einer Ecke lagen und an den Griffen oder Schlüsseln einiger Möbelstücke kleine Schilder hingen.
    »Setz dich, Ruth«, sagte die Mutter.

27
    Manhattan, 1923
    Christmas hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Am gewohnten Treffpunkt, der Bank im Central Park, hatte er auf Ruth gewartet. Doch Ruth war nicht aufgetaucht. Es war das erste Mal, dass sie eine Verabredung nicht einhielt. Anfangs hatte er einfach nur abgewartet. Schließlich war er von

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