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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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sagte er leise. »Du bist nichts als eine blöde reiche Gans.«
    Er kam an den Times Square. Das Schild am Fabrikgebäude war neu. Nun stand dort: Aaron Zelter & Son . Christmas erinnerte sich nicht einmal mehr, wann er Santo zum letzten Mal besucht hatte. Ihre Lebenswege hatten sich getrennt, sie hatten gänzlich unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Christmas näherte sich dem Laden. Auch die Gesichter der Verkäufer schienen ihm andere zu sein, doch er war nicht sicher.
    »Sie wünschen?«, fragte der neue Geschäftsleiter argwöhnisch.
    »Arbeitet Santo Filesi noch hier?«
    »Wer?«
    »Der Lagerist«, erklärte Christmas.
    »Ach, der Italiener. Ja. Warum?«
    »Ich bin ein Freund, ich wollte ihm Hallo sagen«, erklärte Christmas mit einem Lächeln.
    »Warte hinter dem Laden auf ihn. Im Augenblick hat er zu tun«, antwortete der Geschäftsleiter, ohne das Lächeln zu erwidern. Dann zog er eine Uhr aus der Weste und warf einen Blick darauf. »In fünf Minuten schließen wir, und wenn dein Freund fertig ist, kannst du so lange mit ihm reden, wie du willst, ohne mir die Zeit zu stehlen.«
    »Danke ...« Christmas wandte sich dem Ausgang zu.
    »Es gibt ein altes Sprichwort: ›Es ist verboten, Zeit zu vergeuden, die von Gott bemessen und von Menschen bezahlt wird.‹«
    Gelangweilt schüttelte Christmas den Kopf. Ihm stand nicht der Sinn nach Moralpredigten. Er bog um die Ecke, und während er den Geschäftsschluss abwartete, betete er, dass die Minuten schnell vergingen, denn er hatte Angst, mit seinen Gedanken alleine zu sein.
    »Christmas!«, rief Santo überrascht, kaum dass er aus dem Hinterausgang trat und den Freund entdeckte.
    »Sie haben den ganzen Schuppen neu gemacht«, sagte Christmas mit Blick auf den Laden. »Seltsam, dass sie so einen Klotz am Bein wie dich nicht vor die Tür gesetzt haben.«
    »Es hat nicht viel gefehlt«, erwiderte Santo, während sie sich fröhlich wie in alten Zeiten gemeinsam auf den Heimweg machten. »Weißt du, was sein Lieblingsspruch ist?«
    »Es ist verboten, Zeit zu vergeuden, die von Gott bemessen und von Menschen bezahlt wird.«
    Santo lachte. »Stimmt genau. Hat er den auch zu dir gesagt? Was für eine Nervensäge! Seit der alte Isaacson tot ist, versucht sein Sohn nach und nach, alles loszuwerden. Der Laden gehört jetzt diesem widerlichen Geizkragen. Er hat mir den Lohn um einen Dollar fünfzig gekürzt, dabei arbeite ich fast doppelt so viel wie früher.«
    Christmas gab Santo einen Schubs. »Du bist angezogen wie ein schwuler Beamter.«
    »Ich werde auch einer, wenn das so weitergeht, ständig eingesperrt in diesem blöden Lager.«
    Die beiden Jungen lachten. Sie waren fünfzehn Jahre alt. Der erste Bartflaum zeigte sich. Ein paar Lebensspuren spiegelten sich in ihren Augen. Schweigend wie in alten Zeiten gingen sie einige Blocks nebeneinander her.
    »Wie läuft’s mit Joey?«, fragte Santo schließlich.
    »Er ist nicht wie du«, schwindelte Christmas.
    Santo grinste strahlend. »Die Diamond Dogs fehlen mir.«
    »Du gehörst weiter zu uns ...«
    »Klar ...«, murmelte Santo und steckte die Hände in die Taschen. »Meiner Mutter geht es nicht gut.«
    »Ja, ich hab’s gehört.«
    »Weißt du, wann ich gemerkt habe, dass es was Ernstes ist?«
    »Wann?«
    »Als sie aufgehört hat, mich zu ohrfeigen.« Santo versuchte zu lächeln.
    »Ja ...«, brummte Christmas. »Tut mir leid, Kumpel.«
    »Klar ...«
    Und wieder gingen sie einige Blocks schweigend nebeneinander her.
    »Ich hätte nicht gedacht, dass mir die Ohrfeigen meiner Mutter einmal fehlen könnten«, bemerkte Santo unvermittelt.
    Christmas sagte nichts darauf. Weil es nichts zu sagen gab. Und weil Santo keine Antwort von ihm erwartete. So war das zwischen ihnen. So war es schon immer gewesen.
    »Wie geht es denn diesem Mädchen?«
    »Wem?«, fragte Christmas zurück, als wüsste er nicht, wen Santo meinte.
    »Ruth.«
    »Ach so, Ruth ...« Nur mit Mühe konnte Christmas seine Wut im Zaum halten. »Ich treffe sie nicht mehr. Sie ist eine blöde Kuh«, erklärte er kurz angebunden.
    Santo sagte nichts darauf. Denn so war das zwischen ihnen.
    »Fröhliche Weihnachten, mein Freund«, wünschte Christmas, als sie zu Hause angekommen waren.
    »Dir auch fröhliche Weihnachten ... Chef.«

28
    Manhattan, 1913–1917
    Cetta sah Andrew nie wieder. Nach einiger Zeit strich sie ihn aus ihren Gedanken. Sie erinnerte sich einzig daran, wie sehr der Madison Square Garden sie bewegt hatte. Und fortan erzählte sie Christmas

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