Der Junge, der Träume schenkte
werden.«
Schweigend sah Christmas ihn an. »Hat Ruth Sie darum gebeten?«, fragte er dann.
»Nein.«
»Verkäufer zu sein interessiert mich nicht. Ich habe andere Pläne.«
»Ich stehe in deiner Schuld«, entgegnete der Alte. »Der Zufall ist ein Tritt in den Hintern, den das Leben dir gibt, damit du einen Schritt nach vorne machst. In der Welt der Erwachsenen ist der Zufall eine Chance, die man nicht vergeuden sollte.«
»Darum habe ich auch vor, sie zu nutzen.«
»Wie denn?«
»Ist Ihnen je in den Sinn gekommen, Ruth einmal einem Geschäftsleiter zur Frau zu geben?«
»Nein, für meine Enkelin wünsche ich mir etwas Besseres.«
»Ich auch.«
»Was hast du dir in den Kopf gesetzt, Junge?«
»Es geht mir um Ruth. Nicht um Sie, Mr. Isaacson.«
»Ruth ist Jüdin, und du bist Italiener.«
»Ich bin Amerikaner.«
»Rede keinen Unsinn ...«
»Ich bin Amerikaner«, beharrte Christmas.
»Na, jedenfalls bist du kein Jude. Und Ruth wird einen Juden heiraten.«
»Einen Juden wird sie nicht lieben!«, erwiderte Christmas zornig.
»Und dich wird sie lieben?«, spottete der Alte, doch sein Lachen klang gezwungen. Die Augen des Jungen waren so tiefgründig, wie er sie in Erinnerung hatte. Nun aber hatten sie auch einen entschlossenen Ausdruck. So als wäre Christmas unversehens zum Mann gereift.
»Das ist die Chance, die der Zufall mir geboten hat. Und ich habe nicht vor, sie zu vergeuden, genau wie Sie sagen.«
Saul Isaacson ergriff seinen Stock und fuchtelte damit vor Christmas’ Gesicht herum. »Von jetzt an verbiete ich dir, Ruth zu sehen«, sagte er.
Christmas lächelte ihn herausfordernd an. »Aber Sie fühlen sich noch immer in meiner Schuld, richtig?«
»Nicht bis zu diesem Punkt.«
»Nein, ich dachte an Ihr Stellenangebot«, erklärte Christmas. »Ich habe da genau den Richtigen für Sie.«
»Ich bin kein Wohltätigkeitsverein.«
»Als ich Ruth gefunden habe, war ich mit einem Freund unterwegs. Auch er verdient die Möglichkeit, den Zufall zu nutzen. Und Ihre Dankbarkeit.«
Der alte Jude sah Christmas eindringlich an. »Und wer soll das sein? Noch so ein Schwätzer wie du?«
»Nein, Sir. Santo ist der geborene Lagerist.«
»Santo?«
»Santo Filesi. Er kann lesen und schreiben.«
Saul Isaacson wiegte den Kopf hin und her. »Also gut«, schnaufte er schließlich. »Sag ihm, wenn er die Stelle haben will, soll er morgen früh pünktlich um neun Uhr hier in der Fabrik erscheinen.« Er hielt Christmas den Stock an die Brust. »Du aber halt dich von Ruth fern.«
»Nein, Sir. Wenn Sie das wollen, müssen Sie mich schon von Greenie blutig prügeln lassen. Aber solange er mich nicht umbringt ... werde ich wieder aufstehen«, sagte Christmas entschieden, drehte sich um und verließ das Büro.
Im Weggehen hörte Christmas, wie der Stock des alten Mannes dreimal heftig auf die Tischplatte geschlagen wurde. Dann knackte es plötzlich, wie von splitterndem Holz.
Am nächsten Morgen erschien Santo pünktlich um neun Uhr bei Saul Isaacson. Er reichte dem Alten einen nagelneuen Stock, den Christmas umsonst von einem Trödelhändler im Viertel bekommen hatte, nachdem er behauptet hatte, er wäre für einen mächtigen Gangsterboss, für den die Diamond Dogs arbeiteten. Der Trödelhändler hatte seinen besten Spazierstock herausgesucht: silberner Knauf, abgelagertes tiefschwarzes afrikanisches Ebenholz, verstärkte Silberspitze.
»Von Christmas«, sagte Santo. »Er hat gesagt, das Ding hält einiges aus.«
Saul Isaacson riss ihm den Stock aus der Hand und holte damit wie zum Schlag aus. Mit einem Mal aber brach er in schallendes Gelächter aus und stellte Santo für einen Wochenlohn von siebenundzwanzig Dollar fünfzig ein.
Als der Herbst begann, war das Lachen des alten Mannes für immer verstummt.
Dr. Goldsmith sagte, er habe Saul Isaacson ermahnt, gesünder zu leben, Anstrengung zu vermeiden, sein Arbeitspensum zu verringern, sich beim Essen zu mäßigen und das Rauchen aufzugeben. Doch Isaacson, so Dr. Goldsmith weiter, habe geantwortet: »Ich will nicht wie ein Kranker leben, um gesund zu sterben.« Nun hatte der Gründer der Saul Isaacson’s Clothing, eine der florierendsten Fabriken für Stoffe und Konfektionskleidung im ganzen Land, einen tödlichen Herzinfarkt erlitten.
Ich friere, hatte Ruth gedacht, doch sie hatte nicht eine Träne vergießen können. Es war, als wäre ihr gesamter Körper urplötzlich gefroren. Einzig im Stumpf des abgetrennten Fingers hatte sie einen stechenden Schmerz
Weitere Kostenlose Bücher