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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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gespürt. Und obwohl die Tage noch mild waren, hatte Ruth sich in dicke Pullover und Kaschmirdecken gehüllt. Und dennoch hatte sie bis zu diesem Tag nicht aufgehört zu frieren.
    Reglos saß sie auf dem Stuhl, der so lange ihrem Großvater vorbehalten gewesen war, und suchte, umgeben von schwarz verhangenen Spiegeln und während ihr Vater das Kaddish rezitierte, nach einem Hauch der Wärme, die der aufbrausende, herzliche alte Mann immer ausgestrahlt hatte.
    Niemand in ihrem riesigen Haus hatte auch nur eine Träne vergossen. Nicht der Vater, der sich, wie es die Tradition verlangte, den Bart wachsen ließ. Nicht die Mutter, die, so dachte Ruth, vielleicht noch nie hatte weinen können.
    Am Tag des in sämtlichen Zeitungen angekündigten Begräbnisses versammelten sich auf dem Friedhof unzählige Arbeiter und Arbeiterinnen mit einer schwarzen Binde am Arm, die Männer trugen zudem die Yarmulke auf dem Kopf. Und auch von den Arbeitern weinte niemand. Sie hielten stumm den Blick gesenkt. In der ersten Reihe, neben Ruth und ihren Eltern, standen elegante Männer und Frauen aus der Geschäftswelt. Ruth fror, und noch immer konnte sie keine Träne für den Mann vergießen, den sie so sehr geliebt hatte.
    Ruths Vater ergriff das Wort. Er beschrieb jedoch nicht, wer Opa Saul gewesen war. Er berichtete, wie er aus Europa herübergekommen war, wie er die Saul Isaacson’s Clothing gegründet und die Geschäfte zum Erfolg geführt hatte. Die Ansprachen des Schneiders Asher Mankiewicz, die eines Arbeiters, der im Namen aller anderen sprach, sowie die einiger Geschäftsmänner und des Rabbis rauschten an Ruth vorbei. So viele Worte, dachte sie, und keines vermag zu beschreiben, wie Großvater wirklich gewesen ist.
    Dann senkte der Sarg sich ins Grab hinab.
    Ich bin allein, dachte Ruth inmitten all der Menschen.
    »Und mit seinem Spazierstock schlug er härter zu als Babe Ruth«, erklang in dem Moment eine Stimme neben ihr so laut, dass es auch die Menschen in den hinteren Reihen hören konnten. »Amen.«
    Ruth und alle anderen wandten sich um. Christmas hatte eine alberne gehäkelte Yarmulke in bunten Farben aufgesetzt, die ihm zu weit vorn und ein wenig schief auf dem Kopf saß.
    Und da plötzlich begann Ruth zu weinen. All die Tränen, die bis dahin nicht hatten fließen wollen, rannen nun über ihre Wangen, wie ein Strom, der mit unaufhaltsamer Macht über die Ufer trat. Und auf einmal schien die Wärme in ihren Körper zurückzukehren. Ihre Beine wurden schwach, und während sie auf die Knie sank, schlug sie die Hände vor die Augen, überzeugt, den Verlust des geliebten Großvaters nie verwinden zu können.
    Sofort war Christmas bei ihr, kniete sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern, um das Schluchzen zu beruhigen, von dem sie geschüttelt wurde.
    »Jetzt bin ich da«, flüsterte er ihr ins Ohr.
    »Ruth! Ruth!«, mahnte die Mutter leise, aber mit schriller Stimme. »Mach kein Theater.«
    »Junge, das hier ist ein Begräbnis, kein Zirkus«, sagte Ruths Vater und versuchte, Christmas am Arm fortzuziehen.
    Doch Christmas ließ Ruth nicht los.
    »Tu doch etwas, Philip«, drängte Sarah Isaacson. »Er macht uns lächerlich.«
    »Greenie! Greenie!«, rief Philip.
    Der Gangster in Grün bahnte sich einen Weg bis an den Rand des Grabes, in dem Saul Isaacson lag. Entschieden packte er Christmas bei den Schultern und zog ihn unsanft hoch.
    »Bring ihn weg«, befahl Ruths Vater.
    »Zwing mich nicht, vor all den Leuten hier handgreiflich zu werden, Junge«, sagte Greenie leise.
    Christmas half Ruth auf die Beine und streichelte über ihr tränennasses Gesicht. »Er wird mir fehlen«, sagte er.
    Da begann Ruth noch heftiger zu weinen und klammerte sich verzweifelt an Christmas.
    »Hör auf damit, Ruth!«, zischte die Mutter.
    »Bring ihn weg, Greenie«, befahl der Vater abermals.
    »Gehen wir, Junge«, sagte Greenie und packte ihn noch fester am Arm.
    Christmas warf einen letzten Blick auf Ruth, bevor er sich durch die Menge bis auf den asphaltierten Friedhofsweg führen ließ.
    »Tut mir leid«, murmelte Greenie.
    Christmas drehte sich um und ging langsam auf den Ausgang zu, vorbei an den Luxuslimousinen, die den Trauerzug gebildet hatten.

26
    Manhattan, 1923
    Ruth hatte die Bibliothek eine Stunde früher verlassen, Fred aber nichts davon gesagt. An diesem Tag wollte sie allein nach Hause gehen.
    Nachdem ihr Großvater gestorben war, hatten ihre Eltern Greenie und seine Bande von Gorillas entlassen. Die Aufgabe, Ruth

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