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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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immer.
    Eine Frau, sicher die, die zuvor gesprochen hatte, kam hinzu. Sie war klein und dunkelhaarig. Ihre Frisur war die eines Flappers. Wie eine Prostituierte sieht sie nicht aus, dachte Ruth und wunderte sich erneut, dass sie keinerlei Erinnerung an Christmas’ Mutter mehr hatte.
    »Mama ... das ist Ruth, erinnerst du dich?«
    Ruth bemerkte, dass der Blick der Frau sofort auf ihre Hand fiel.
    »Tut mir leid, Christmas«, sagte Ruth. »Es war ein Fehler hierherzukommen.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und lief die Treppe hinunter.
    »Warum hast du sie hergebracht?«, herrschte Christmas Fred an, während er an ihm vorbei hinter Ruth herrannte. Im schmalen Hausflur holte er sie ein, packte sie am Arm und zwang sie, sich umzudrehen. »Für wen hältst du dich?«, schrie er ihr ins Gesicht.
    Fred hielt am Fuß der Treppe inne.
    »Für wen hältst du dich?«, rief Christmas noch einmal.
    »Warte im Wagen auf mich, Fred«, sagte Ruth. »Ich brauche nur einen Moment.«
    Unschlüssig blieb Fred einen Moment stehen und musterte die beiden jungen Leute. Dann ging er hinaus. Christmas und Ruth starrten sich schweigend an.
    »Und, hast du genug gesehen?«, fragte Christmas schließlich grimmig. Mit ausgebreiteten Armen holte er demonstrativ Luft. »Atme tief ein, Ruth. Das ist die Luft, die ich in den Lungen habe. Dein Großvater hatte ganz recht, diese Scheiße wirst du nicht los. Hast du gesehen, wer wir sind? Dann kannst du jetzt ja gehen.«
    Ruth versetzte ihm eine Ohrfeige. Da packte Christmas sie an den Schultern und drückte sie keuchend gegen die Wand, mit zornentbranntem Blick, den Mund ganz nah an ihren Lippen. Und da sah er die Angst in ihren Augen. Die Angst, die sie vor Bill gehabt haben musste. Unvermittelt ließ er sie los und trat erschrocken zurück.
    »Verzeih mir«, bat er.
    Ruth sagte nichts, sie schüttelte bloß den Kopf, während die Angst von ihr abfiel.
    Christmas trat noch einen weiteren Schritt zurück. »Jetzt kannst du gehen.«
    Er hatte keine Ahnung, weshalb Ruth nicht zu ihrer Verabredung erschienen war, weshalb sie ihm den Abschiedsbrief geschrieben hatte. Er hatte keine Ahnung, dass sie sich geschminkt hatte. Er hatte keine Ahnung, dass Ruth für einen kurzen Moment bereit gewesen war, ein ganz normales Mädchen zu sein. Für ihn.
    »Ich gehe nach Kalifornien«, erklärte Ruth mit kalter, vor Zorn bebender Stimme. »Mein Vater hat die Fabrik verkauft. Er will Filme produzieren. Wir ziehen nach Kalifornien, nach Los Angeles.« Sie hatte geglaubt, es würde ihr schwerfallen, es ihm zu erzählen. Stattdessen fühlte sie sich nun erleichtert. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, sah sie ihn an. Sie hasste ihn. Sie hasste ihn aus tiefstem Herzen. Weil Christmas alles war, was ihr geblieben war. Und sie musste ihn verlassen. Für immer. Sie hasste ihn seiner klaren Augen wegen, die ganz ohne Scham jedes seiner Gefühle verrieten. Und sie hasste ihn, weil sie in seinem Blick las, wie verzweifelt er war, sie zu verlieren.
    »Leb wohl«, sagte sie schnell, bevor er in ihren Augen die gleiche Verzweiflung lesen konnte. Damit drehte sie sich um und lief zum Auto hinaus. »Fahr los, beeil dich, Fred«, drängte sie und zog die Wagentür zu.
    Christmas brauchte einen Augenblick, um sich zu fangen. Als er auf die Straße trat, fuhr der Wagen gerade vom Bordstein herunter. »Das kümmert mich einen Scheiß!«, schrie er aus vollem Hals.
    Ruth aber blickte nicht zurück.

31
    Manhattan, 1917–1921
    Cettas Versuche, ihn umzustimmen, scheiterten allesamt kläglich: Christmas kehrte nie wieder in die Schule zurück. Schließlich gab Cetta auf. Während sie aufmerksam verfolgte, wie ihr Sohn heranwuchs, fragte sie sich besorgt, was wohl aus ihm werden würde, wenn er einmal groß war. Wenn sie ihn am frühen Abend, nachdem er einen ganzen Nachmittag lang durch die Straßen gelaufen war und Zeitungsschlagzeilen ausgerufen hatte, mit ein bisschen Kleingeld in den Taschen heimkommen sah, krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie wollte etwas anderes für Christmas, etwas Besseres, doch sie wusste nicht, was. Mehr als einmal ertappte sie sich bei dem Gedanken, weder sie noch er würden je Amerikaner sein und die gleichen Chancen wie Amerikaner haben, ähnelte die Lower East Side doch in vielem einem Hochsicherheitsgefängnis, aus dem es kein Entkommen gab. Und das Strafmaß eines jeden, der hier lebte, lautete auf lebenslänglich.
    Im nächsten Moment aber schenkte ihr angeborener Optimismus ihr

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