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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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den sie am Tag vor Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Sie hatte ihn im Briefkasten gefunden. Dann leb wohl , lautete die Nachricht beifügte. Weiter nichts. Keine Unterschrift.
    »Ein frohes neues Jahr, Miss Ruth«, sagte Fred, während er die Tür des Silver Ghost schloss.
    Doch nicht einmal ihm gab Ruth eine Antwort. Sie sank in die weichen Ledersitze, die nicht mehr nach Zigarre und Brandy rochen und nun keine Erinnerung mehr an ihren Großvater wachriefen. Unablässig strich sie mit dem Daumen über das rote Herz. Wütend fast, als wollte sie den hässlichen Lack abkratzen. Eine Woche war vergangen, seit sie es geschenkt bekommen hatte. Heute war Neujahr.
    »Weißt du, wo Christmas wohnt?«, erkundigte sie sich plötzlich, ohne den Blick zu heben.
    »Ja, Miss Ruth.«
    »Fahr mich hin.«
    »Miss Ruth, Ihre Mutter erwartet Sie zum Mittagessen im ...«
    »Bitte, Fred.«
    Unentschlossen nahm der Chauffeur den Fuß vom Gas.
    »Sie haben dich doch schon entlassen, oder?«, fragte Ruth.
    »Ja.«
    »Was also können sie dir noch anhaben?«
    Fred sah sie im Rückspiegel an. Er lächelte ihr zu. »Sie haben recht, Miss Ruth.« Er wendete den Wagen und steuerte auf die Lower East Side zu.
    »Hast du schon eine neue Anstellung gefunden, Fred?«, fragte Ruth, nachdem sie einige Häuserblocks hinter sich gelassen hatten.
    »Nein.«
    »Und was hast du nun vor?«
    Fred lachte. »Ich heuere bei den Whiskyschmugglern als Lastwagenfahrer an.«
    Ruth kannte ihn von klein auf. »Mein Vater hat den Karren ganz schön in den Dreck gefahren, was?«
    Fred warf ihr im Spiegel einen belustigten Blick zu. »Miss Ruth, ich glaube, der Umgang mit diesem Jungen tut Ihrer Ausdruckweise nicht gut.«
    Wieder streichelte Ruth mit dem Finger über das Lackherz. »Du magst Christmas, nicht wahr?«
    Fred antwortete nicht, aber Ruth bemerkte sein Lächeln.
    »Großvater mochte ihn auch«, fügte sie hinzu. Sie sah aus dem Fenster. Soeben fuhren sie unter den Gleisen der BMT-Linie hindurch. Das Reich der Lower East Side begann. »Du und er wart einander ähnlich ...«
    »Ja«, bestätigte Fred leise. Dann bog er von der Market Street in die Monroe Street ein, wo er vor dem Haus Nummer 320 anhielt. »Erster Stock.« Er stieg aus und öffnete Ruth die Tür. »Ich begleite Sie.«
    »Nein, ich gehe allein.«
    »Besser nicht, Miss Ruth.«
    Die Treppe war schmal und steil. Ruth sah sich um und bemerkte, dass sie wirklich keine Erinnerung mehr an dieses Haus hatte. Es roch streng nach Knoblauch und anderen Gerüchen, die Ruth nicht entschlüsseln konnte. Ausdünstungen menschlicher Körper, dachte sie. Vieler Körper. Die Wände, von denen der Putz bröckelte, waren übersät mit Inschriften, darunter einige Obszönitäten. Die Treppenstufen waren schmutzig und ausgetreten. Ruth verbarg den scheußlichen Anhänger, das schönste Weihnachtsgeschenk, das sie in dem Jahr bekommen hatte, in der Tasche ihres Kaschmirmantels. Während sie gemeinsam mit Fred die Treppe hinaufstieg, spürte sie eine Last auf ihrer Brust. Dann leb wohl , hatte Christmas ihr geschrieben. Seit zehn Tagen hatte sie ihn nicht gesehen. Und Christmas hatte keine Ahnung, dass sie sich am Make-up ihrer Mutter bedient hatte, um ihren Lippen ein intensiveres Rot zu verleihen. Er hatte keine Ahnung, dass sie ihn an jenem Tag hatte küssen wollen.
    »Warte, Fred«, sagte sie, als sie vor der Wohnungstür standen.
    Christmas hatte keine Ahnung, weshalb sie nicht zu ihrer Verabredung erschienen war. Er wusste nicht, was ihre Eltern ihr an dem Tag mitgeteilt hatten, wusste nicht, weshalb es aus war. Ruth spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
    »Warte, Fred«, sagte sie erneut und wandte sich von der Tür ab.
    Stimmen tönten durch das Haus, Stimmen von Menschen, die lachten und in einer fremden Sprache schrien und stritten. Tellergeklapper, vulgäre Gesänge, weinende Kinder. Dazu dieser schreckliche Geruch, der Geruch nach Menschen. Und das Gefühl, unwiderruflich ausgeschlossen zu sein aus dieser Welt. In hilfloser Wut drehte Ruth sich wieder um und klopfte mit Nachdruck an die Tür.
    Als Christmas öffnete und Ruth vor sich sah, erstarrte er. Seine Augen wurden schmal. Flüchtig warf er einen strengen Blick zu Fred hinüber. Mit kaltem Ausdruck musterte er daraufhin wieder Ruth. Wortlos.
    »Wer ist da?«, klang eine Frauenstimme aus der Wohnung.
    Ein hässlicher Mann mit einer Serviette voller Soßenflecken im Hemdkragen tauchte an der Tür auf.
    Christmas schwieg noch

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