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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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ein Dach in der Orchard Street teerst«, entgegnete Sal. »Es sind die von letzter Woche. Sie haben gesagt, du machst das gut.«
    Christmas seufzte leise. Von sieben Dollar am Tag wurde man nicht reich. Man lief Gefahr, genau so ein Scheißleben zu führen wie Martin Eden. Trotzdem gefiel es ihm, dass Sal sich um ihn kümmerte. »Wir sind so etwas wie eine Familie, oder?«, fragte er ihn unvermittelt.
    Sal blieb auf halbem Weg stehen und sah ihn an. Dann ging er kopfschüttelnd weiter die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu seinem so genannten »Büro« – an dieser Bezeichnung hielt Sal hartnäckig fest, obwohl er die Wohnung in Bensonhurst inzwischen verkauft hatte. »Wer setzt dir denn solche Flausen in den Kopf? Deine Mutter?«
    Christmas folgte ihm in die Wohnung. »Liebst du sie?«
    Sal erstarrte. Verlegen wippte er von einem Fuß auf den anderen. Schließlich trat er ans Fenster hinter dem Schreibtisch und blickte hinaus. »Ich habe es ihr nie gesagt«, bekannte er, ohne sich zu Christmas umzudrehen.
    »Und warum nicht?«
    »Was ist denn heute los mit dir?«, platzte Sal heraus und fuhr mit rotem Gesicht zu ihm herum. »Was zum Teufel sollen all diese Fragen?«
    Christmas wich einen Schritt zurück. Sein Blick fiel hinab auf den Einband von Martin Eden . »Ich wollte doch bloß wissen, warum ...«, sagte er leise und ging zur Tür.
    »Weil ich noch nie ein mutiger Mann war, nehme ich an ...«
    Tags darauf hörte Christmas Cetta im Morgengrauen in die Wohnung kommen. Regungslos lag er unter der Decke und lächelte. Schließlich verließ er das Haus und schlenderte ein wenig durch die Straßen, kaufte von einem kleinen Teil des Geldes, das er in der Woche zuvor mit dem Teeren von Dächern verdient hatte, ein Zuckerbrot und kehrte um elf Uhr zurück nach Hause. Um diese Zeit wurde seine Mutter gewöhnlich wach. Er setzte sich zu ihr aufs Bett und reichte ihr das noch warme Zuckerbrot.
    Während Cetta am Brot knabberte, streichelte sie seine Hand. »Du bist wirklich ein hübscher Junge geworden«, stellte sie lächelnd fest.
    Christmas wurde rot. »Mir macht es nichts aus, wenn du am Morgen bei Sal bleibst«, sagte er da mit gesenktem Blick.
    Cetta verschluckte sich und begann zu husten. Dann lachte sie und zog Christmas zu sich, drückte ihn fest und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Nein, nein, es ist schön zu wissen, dass du am Morgen über mich wachst«, sagte sie, und eng umschlungen blieben sie nebeneinander auf dem Bett liegen.
    »Mama, Sal liebt dich, hast du das gewusst?«, fragte Christmas nach einer Weile.
    »Ja, mein Schatz.«
    »Und wie kannst du das wissen, wenn er es dir nie gesagt hat?«
    Cetta seufzte und strich über Christmas’ blonde Stirnlocke. »Weißt du, was Liebe ist?«, sagte sie. »Wenn du in der Lage bist, etwas zu sehen, was kein anderer sehen kann. Und wenn du bereit bist, etwas zu zeigen, was du keinem anderen zeigen würdest.«
    Christmas schmiegte sich an seine Mutter. »Werde auch ich mich eines Tages verlieben?«

32
    Manhattan, 1924
    »Sie reisen heute Abend ab«, hatte ihm Fred eines Morgens Mitte Januar mitgeteilt. Er hatte Christmas zu Hause besucht, um ihm die Nachricht zu überbringen.
    Schweigend hatte Christmas ihn angesehen. Es stimmt also, hatte er gedacht. Bis zu dem Tag hatte er sich immer wieder eingeredet, es könnte nicht sein. Weil es für ihn undenkbar war, Ruth nie wiederzusehen, sie vergessen zu müssen.
    »Central Station«, hatte Fred da gesagt, als könnte er Gedanken lesen. »Gleis fünf. Um sieben Uhr zweiunddreißig.«
    So machte sich Christmas am Abend auf den Weg zur Grand Central Station. Während er sich dem Haupteingang an der 42nd Street näherte, sah er auf die mächtige Bahnhofsuhr, den Blickfang der Fassade. Sieben Uhr fünfundzwanzig. Anfangs hatte Christmas vorgehabt, gar nicht erst hinzugehen. Das verwöhnte reiche Mädchen verdiente seine Liebe nicht. Sie war also fähig, ihn mir nichts, dir nichts aus ihrem Leben zu streichen? Nun, dann würde er eben das Gleiche tun! Doch schließlich hatte er es nicht ausgehalten. Ich werde dich immer lieben, selbst wenn du mich niemals lieben solltest, hatte er gedacht, und augenblicklich war all seine Wut verraucht. Christmas hatte den Jungen wiedergefunden, der er immer gewesen war. Und nun war in ihm einzig Raum für die grenzenlose Liebe, die er für Ruth empfand.
    Der Minutenzeiger bewegte sich einen Strich weiter. Sieben Uhr sechsundzwanzig. Die Statuen von Merkur, Herkules und Minerva

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