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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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die Blechdose, in der Liv ihre armseligen Ersparnisse aufbewahrte, und stahl das Geld. Er steckte seine eigenen Ersparnisse und die Edelsteine ein, packte leise, ohne Liv zu wecken, seine Sachen in einen Koffer und floh aus der Baracke.
    Im Morgengrauen erreichte er Detroit und nahm sich dort ein Zimmer. Den Tag über sah er sich sämtliche Juweliergeschäfte der Stadt an, bis er eines fand, das ihm für seine Zwecke geeignet schien. Es lag am Stadtrand. Zudem hatte er zwei finstere Gestalten hineingehen sehen. Durch das Schaufenster hatte er rasch einen Blick ins Innere des Geschäfts geworfen und sofort begriffen. Als er am Tag darauf einen anderen Kerl, der aussah wie ein Gangster, den Laden betreten sah, folgte er ihm.
    Hinter der Theke war eine beleibte Frau gerade damit beschäftigt, eine Vitrine mit Kristall- und Porzellanfiguren zu polieren.
    »Der Mönch schickt dir zwei Präsente«, sagte der Gangster zum Juwelier.
    Bevor ihn jemand bemerkte, hatte Bill das Geschäft wieder verlassen. Hinter eine Hausecke geduckt, wartete er ab, bis er den Gangster herauskommen sah, und ließ danach noch weitere zehn Minuten verstreichen.
    »Der Mönch hatte die Hauptsache vergessen«, sagte Bill kurz darauf zu dem Juwelier.
    Die Zigarette schief im Mundwinkel, musterte der Schmuckhändler ihn misstrauisch. »Wer bist du denn?«
    Die rundliche Frau hinter der Ladentheke starrte Bill an.
    »Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Was zählt, ist, ob der Mönch sauer wird, meinst du nicht?«, entgegnete Bill, über die Ladentheke gebeugt, mit gesenkter Stimme.
    Der Juwelier ging in den hinteren Bereich des Ladens. »Komm mit«, sagte er und öffnete eine von einem Vorhang verdeckte kleine Tür.
    Bill warf der Dicken einen Blick zu und folgte dem Mann.
    »Tausend«, sagte der Juwelier, als er von der Lupe aufblickte. Die Edelsteine funkelten im Lichtschein. In einem schweren bronzenen Aschenbecher glühte die Zigarette des Juweliers vor sich hin.
    »Tausend für die Diamanten? Okay«, erwiderte Bill. »Jetzt schätz den Smaragd, der Mönch ist nämlich sehr gespannt, ob auch du der Meinung bist, dass alles zusammen mindestens zweitausend wert ist.«
    »Zweitausend?«, rief der Schmuckhändler kopfschüttelnd aus.
    Doch Bill war sofort klar, dass er ihm das Geld geben würde.
    »Und was springt für mich dann noch raus?«, jammerte der Juwelier.
    »Deine Gesundheit.«
    Der Schmuckhändler räumte die Steine zusammen und wandte sich zum Tresor. Er öffnete ihn und begann, das Geld abzuzählen. Bill zog ihm den bronzenen Aschenbecher über den Kopf. Stöhnend brach der Juwelier zusammen. Die Geldscheine flogen raschelnd umher. Während sich aus dem Haar des Juweliers eine dicke rote Lache über den Boden ergoss, sammelte Bill alles Geld auf und stopfte es in seine Taschen. Bei seiner Flucht aus dem Laden riss er die rundliche Frau um, die sich dem Hinterzimmer genähert hatte.
    Bei einem Autohändler kaufte er für fünfhundertneunzig Dollar, die er bar bezahlte, ein T-Modell in einer der besten Ausführungen, die auf dem Markt waren. Er holte seinen Koffer aus der Pension, in der er abgestiegen war, und verließ Detroit. Als die Stadt hinter ihm lag, zählte er das Geld des Juweliers. Viertausendfünfhundert Dollar. Da lachte er. Er lauschte, wie sein Lachen sich im Innern des Wagens ausbreitete, bevor es erstarb. Ich bin reich, dachte er, lachte abermals und gab Gas.
    Er kannte sein Ziel. Liv hatte ihm immer davon erzählt. Sie hatte gesagt, das Klima sei herrlich und das Meer das ganze Jahr über warm. Von nichts anderem hatte sie gesprochen als von Palmen, schneeweißem Sand, Sonne.
    »Kalifornien, ich komme!«, rief er aus dem Fenster, während die Tin Lizzie über die Straße brauste.

30
    Manhattan, 1924
    »Ein frohes neues Jahr, Miss Isaacson«, wünschte der Liftboy, als er die Türen schloss.
    Ruth hielt den Blick starr geradeaus gerichtet und gab keine Antwort. Der Junge in Uniform und steifer Kappe betätigte einige Hebel, woraufhin die Fahrstuhlkabine sich nach unten in Bewegung setzte. In der Hand hielt Ruth einen Anhänger an einem schlichten Lederband, ein glänzendes rotes Herz von der Größe eines Aprikosenkerns. Scheußlich.
    »Ein frohes neues Jahr, Miss Isaacson«, wünschte der Portier am Eingang, als er ihr die Tür aufhielt.
    Ruth antwortete nicht. Mit gesenktem Kopf ging sie vorbei. Selbst den eisigen Wind, der sie draußen empfing, nahm sie nicht wahr. Mit dem Daumen fuhr sie über den glänzenden Anhänger,

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