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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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ein stämmiger, ungehobelter Kerl namens Trevor Lavender, Requisiteur bei der Fox Film Corporation, der die »Künstler« hasste. Alle, ohne Ausnahme, weil sie, wie er sagte, Schwächlinge seien.
    In Nummer sechzehn lebte Clarisse Horton, eine vierzigjährige Frau, die in den Paramount-Studios als Friseurin arbeitete und ihren – bei Bills Ankunft sieben Jahre alten – Sohn Jack allein großzog. Jack war die Frucht eines flüchtigen Abenteuers mit einem geheimnisvollen Filmstar, dessen Namen Clarisse nie hatte preisgeben wollen. Aus dem Jungen sollte einmal ein Musicalstar werden, weshalb er sich im Singen übte und dabei immer wieder aufs Neue das ausdrucksvolle, rührselige Lied von einem Jungen anstimmte, dessen Mutter eines Nachts davongelaufen war und ihn zurückgelassen hatte. Jack breitete beim Singen die Arme aus und verfolgte, das Gesicht verwundert und traurig zum Horizont gewandt, die imaginäre Reise der Mutter. Dabei fragte er sich – so wollte es das Lied –, wohin es sie wohl führen werde, und gab sich selbst zur Antwort, sie werde sich vielleicht all den anderen Müttern, die ihre Kinder verlassen hatten, anschließen, ihre Tat bereuen, und am Ende würden alle wieder nach Hause zurückkehren. »Auf der Suche nach dem Glück«, hieß es in der letzten Strophe des Liedes.
    Während die Zeit verstrich, fand Bill jedoch vom Glück nicht die geringste Spur. Alles war pure Illusion.
    Immer mehr Stunden verbrachte Bill schlafend. Ruth suchte ihn nicht mehr in bösen Träumen heim. Bills Schlaf wurde zunehmend bleiern. Nach dem Aufwachen fühlte er sich erschöpfter und schläfriger als vor dem Einschlafen. Er gähnte und gähnte, verbrachte oft ganze Tage im Schlafanzug, rasierte sich nicht und wusch sich nicht. Anfangs hatte er geglaubt, so wäre das Leben der Reichen, ein Leben ohne Pflichten, ohne Zeitplan, ohne Wecker. Ein Leben, das nur aus Müßiggang bestand. Und in der ersten Zeit hatte er dabei vielleicht nicht unbedingt Glück, aber doch eine gewisse Befriedigung empfunden. Nach und nach jedoch hatte sich die Gewohnheit in Apathie verwandelt. Und aus der Apathie wiederum war eine Form der Depression geworden. Seine Unzufriedenheit – eine latente, noch nicht verarbeitete Unzufriedenheit – ließ ihn seine Umwelt ohne jegliches Interesse betrachten und hielt ihn noch länger auf seinem Schlafsofa fest, das er gar nicht erst zusammenklappte. Woche für Woche schmolzen seine Ersparnisse auf dem Konto bei der American Savings Bank mehr in sich zusammen. Und Woche für Woche schob Bill das Problem vor sich her. Doch war ihm durchaus bewusst, dass er nicht mehr reich war. An allem musste er sparen, zuallererst am Essen. Anfangs war er immer in einem kleinen mexikanischen Restaurant an der La Brea Avenue eingekehrt. Dann war er auf einen Sandwichstand am Ende des Pico Boulevard ausgewichen; er stellte den Ford an der Ecke zur Schnellstraße ab, setzte sich in den warmen Sand und blickte beim Essen hinaus aufs Meer. Schon bald jedoch hatte er auch auf die Sandwiches vom Pico verzichten müssen und fuhr die Tin Lizzie, da er Benzin sparen musste, immer seltener. Er ging dazu über, Lebensmittel in einem kleinen Laden für spanische Einwanderer zu kaufen und sich selbst etwas zu kochen. Bill stellte fest, dass die Witwe Ciccone ihm nicht länger schöne Augen machte. Sie nannte ihn auch nicht mehr Cock.
    Je mehr Bill sich einschränkte, desto stärker kochte die alte Wut wieder in ihm hoch. Und mit der Wut fand er langsam zu sich selbst zurück. Ein neues Gefühl bildete sich heraus: Neid, zermürbender Neid auf den Reichtum, dem er an jeder Straßenecke begegnete. Die armen Schlucker, wie er selbst einer war, sah er nicht mehr, seine Nachbarn mit ihrer alltäglichen Not nahm er nicht wahr. Die meiste Zeit verbrachte er am Sunset Boulevard, wo er in die Villen äugte und den Luxuskarossen hinterherblickte, die vorbeirasten, ohne ihn und den übrigen unbedeutenden Teil der Menschheit zu beachten. Ganz aus der Nähe hatte er sich den vierundzwanzigtausend Dollar teuren Pierce-Arrow angesehen, der einmal Roscoe Fatty Arbuckle gehört hatte; den kobaltblauen McFarlan, den Wally Reid gefahren hatte, bevor er in einer Irrenanstalt gestorben war; den Voisin-Sportwagen von Valentino mit der Kühlerfigur in Form einer eingerollten Kobra; den roten Kissel von Clara Bow; den kanariengelben Pierce-Arrow und den weißen Rolls-Royce mit uniformiertem Chauffeur von Mae Murray; den veilchenblauen Packard von Olga

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