Der Junge, der Träume schenkte
betraten eine enge, stickige Kammer. Dort öffnete die Prostituierte ein Guckloch an der Wand und sah hindurch. Als sie sich wieder umdrehte, sagte sie zu Cetta: »Sieh mal, das bedeutet, es französisch zu machen.«
Cetta hielt ein Auge an das Guckloch und erhielt ihre erste Lektion.
Den ganzen Tag verbrachte sie damit, Freier und Kolleginnen zu beobachten. Es war schon Nacht, als Sal sie abholte und nach Hause zurückfuhr. Während er schweigend am Steuer saß, sah Cetta ein paar Mal verstohlen zu ihm hinüber und dachte an das, was die Prostituierte über ihn gesagt hatte.
Schließlich hielt der Wagen vor der Treppe, die ins Kellergeschoss hinabführte, und beim Aussteigen warf Cetta abermals einen raschen Blick auf den hochgewachsenen hässlichen Mann, der die Mädchen kostete . Doch Sal schaute starr geradeaus.
Die beiden alten Leute waren bereits zu Bett gegangen, als Cetta leise das Zimmer betrat. Christmas schlief zwischen ihnen. Cetta nahm ihn sanft hoch.
Die Alte schlug die Augen auf. »Er hat gegessen und ein Häufchen gemacht«, flüsterte sie. »Alles in Ordnung.«
Cetta lächelte ihr zu und ging hinüber zu ihrer Matratze. Darunter lag nun ein Federrahmen. Auch eine Decke, ein Laken und ein Kissen waren da.
Das Doppelbett quietschte, als die Greisin sich aufsetzte. »Sal hat an alles gedacht.«
Cetta legte Christmas auf die flauschig weiche Decke und blickte zu der Alten hinüber, die noch immer dasaß und sie beobachtete. Da ging sie zu ihr und nahm sie wortlos in den Arm. Und die alte Frau erwiderte die Umarmung und streichelte Cetta über das Haar.
»Leg dich schlafen, du musst müde sein«, sagte sie.
»Ja, schlaft endlich, alle beide!«, brummte ihr Mann.
Cetta und die alte Frau lachten leise.
»Wie heißt ihr eigentlich?«, fragte Cetta mit gedämpfter Stimme.
»Wir sind Tonia und Vito Fraina.«
»Und nachts wollen wir schlafen«, schimpfte der Alte.
Tonia gab ihrem Mann einen Klaps auf den Po, und beide Frauen lachten.
»Ha, ha, sehr witzig«, sagte Vito und zog sich die Decke über den Kopf.
Tonia nahm Cettas Gesicht in beide Hände und sah sie schweigend an. Dann malte sie ihr mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. »Gott segne dich.« Schließlich drückte sie ihr einen Kuss aufs Haar.
Cetta gefiel dieses Ritual sehr. Sie kehrte zurück zu ihrem Bett, zog sich aus und schlüpfte, Christmas im Arm, unter die Decke. Und ganz sachte, damit sie ihn nicht aufweckte, zeichnete sie ihm ein kleines Kreuz auf die Stirn, flüsterte: »Gott segne dich«, und küsste ihn.
»Dein Christmas ist hübsch und kräftig«, bemerkte die Alte. »Aus ihm wird sicher einmal ein toller Kerl ...«
»Jetzt reicht’s!«, polterte Vito los.
Von dem Geschimpfe geweckt, begann Christmas zu weinen.
»Was bist du doch für ein Dummkopf«, bemerkte Tonia. »Bist du nun zufrieden? Jetzt kannst du in Ruhe schlafen.«
Cetta kicherte leise, während sie Christmas beruhigend an sich drückte und sanft in ihren Armen wiegte. Und plötzlich sah sie ihre Mutter, ihren Vater, ihre Brüder – alle, auch den Anderen – vor sich, und ihr wurde bewusst, dass sie bis zu diesem Augenblick nicht ein einziges Mal an sie gedacht hatte. Aber auch diesmal hielt sie sich nicht lange mit Gedanken an zu Hause auf, sondern schlief bald ein.
Nachdem sie den ganzen Vormittag und einen großen Teil des Nachmittags damit verbracht hatte, Tonia und Vito Fraina besser kennenzulernen, machte Cetta sich am nächsten Tag für die Arbeit zurecht. Sie war bereits seit einer halben Stunde fertig, als Sal sie schließlich abholte. Cetta überließ Christmas der Obhut der beiden alten Leute und ging schweigend hinter dem hässlichen Mann her, der sich ihrer angenommen hatte. Als sie bei seinem Wagen angekommen waren, setzte sie sich auf ihren Platz und wartete, dass Sal den Motor startete und losfuhr. Am Morgen hatte sie Tonia gebeten, ihr zwei Wörter in der ihr noch immer fremden Sprache beizubringen. Zwei Wörter, die sie im Bordell nicht lernen würde.
»Warum?«, fragte sie Sal. Und das war das erste Wort, nach dem sie Tonia gefragt hatte.
Sal antwortete ihr mit seiner tiefen Stimme kurz und knapp, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
Cetta verstand ihn nicht. Sie lächelte und sagte das zweite Wort, das sie hatte lernen wollen: »Danke.«
Danach sprachen die beiden nicht mehr. Sal hielt vor dem Eingang des Bordells an, lehnte sich quer über Cetta, öffnete ihr die Beifahrertür und gab ihr zu verstehen, sie solle
Weitere Kostenlose Bücher