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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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aussteigen. Kaum stand sie auf dem Bürgersteig, legte Sal den Gang ein und fuhr weiter.
    An diesem Abend, im Alter von fünfzehn Jahren, machte Cetta es zum ersten Mal französisch.
    Und innerhalb eines Monats hatte sie alles gelernt, was es über das Gewerbe zu wissen gab. Hingegen brauchte es weitere fünf Monate, bis ihr Wortschatz groß genug war, dass sie sich auch außerhalb des Bordells zurechtfand.
    Jeden Nachmittag und jede Nacht fuhr Sal sie von Tonia und Vito Frainas Kellerraum zum Bordell und wieder zurück. Die anderen Mädchen schliefen in einem gemeinschaftlichen Schlafraum im Bordell. Aber dort waren keine Kinder erlaubt. Immer wenn eine von ihnen schwanger wurde, kam ein Arzt und rückte dem Ungeborenen mit einem Draht zu Leibe. Die Hurengemeinschaft durfte sich nicht fortpflanzen, das war eine der Regeln, über deren Einhaltung Sal streng wachte.
    Bei Cetta jedoch war es anders gewesen.
    »Warum?«, fragte sie sechs Monate später eines Morgens im Auto, nun jedoch in der Lage, die Antwort zu verstehen.
    Sals tiefe Stimme dröhnte durch den Wagen, lauter noch als der Motor und kurz und knapp wie schon beim ersten Mal. »Das geht dich nichts an.«
    Und wie damals – doch diesmal nach einer deutlich längeren Pause – sagte Cetta: »Danke.« Und sie konnte nicht anders, als leise vor sich hin zu lachen. Aber aus dem Augenwinkel glaubte sie zu erkennen, dass auch Sals hässliches und ernstes Gesicht sich ein klein wenig aufhellte und dass seine Lippen sich kaum wahrnehmbar zur Andeutung eines Lächelns verzogen.

8
    New Jersey – Manhattan, 1922
    Ruth war dreizehn Jahre alt und durfte abends das Haus nicht verlassen. Doch das Anwesen auf dem Land, in dem die Familie die Wochenenden verbrachte, war düster und trist, fand Ruth. Eine große weiße Villa mit einem eindrucksvollen Portikus vor dem Eingang, die Opa Saul, der Vater ihres Vaters und Gründer des Familienunternehmens, ein halbes Jahrhundert zuvor erbaut hatte. Ein großes weißes Haus, von dem aus eine endlos lange Allee mitten durch den Park bis zum Haupttor führte. In seinem Inneren standen dunkle, stets glänzende Möbel. Amerikanische und chinesische Teppiche lagen auf den Marmor- und Eichenböden, und alte Gemälde von Künstlern aus aller Welt schmückten die stoffverkleideten dunklen Wände. Das Silber in den Schränken stammte aus Europa und dem Orient. Und überall hingen Spiegel, die ein Bild dessen zurückwarfen, was für Ruth nichts weiter war als ein großes, reiches, düsteres Haus.
    Nicht einmal die Dienstboten konnten lächeln. Selbst wenn sie einem Mitglied der Familie Isaacson begegneten und die Etikette es verlangte, brachten sie kein Lächeln zustande. Kaum merklich zogen sie dann die Mundwinkel hoch, senkten den Kopf und fuhren, den Blick zu Boden gerichtet, mit ihrer Arbeit fort. Selbst ihr gegenüber, einem Mädchen mit schwarzen Locken, auffallend heller Haut, feinen Schulkleidern und der Fröhlichkeit einer Dreizehnjährigen, gelang es ihnen nicht zu lächeln.
    Niemand lächelte – weder in der Villa auf dem Land noch im luxuriösen Apartment in der Park Avenue, wo sie die meiste Zeit wohnten –, seitdem ihrer Mutter Sarah Rubinstein Isaacson wegen die Ausgangssperre verhängt worden war. Besser gesagt, der Dinge wegen, die man sich über sie erzählte und erzählt hatte. Dass sie nämlich eine unheilvolle Affäre – sie vierzig, er dreiundzwanzig – mit einem brillanten, klugen, gut aussehenden jungen Mann aus der Synagoge in der 86th Street gehabt habe, der bald darauf hätte Rabbiner werden sollen. Oder zumindest war es das, was man glauben wollte.
    Ruths Vater litt sehr darunter. Ihre Mutter ebenfalls. Der Dreiundzwanzigjährige, der nun nicht mehr der jüngste Rabbiner der Gemeinde werden würde, hatte, um nicht darunter zu leiden, von heute auf morgen ein anständiges jüdisches Mädchen seines Alters geheiratet, das selbst die Tochter eines Rabbiners war. Philip, Ruths Vater, hatte nie an seiner Frau gezweifelt – nicht einen Augenblick –, noch hatte er sie wegen des Geredes an den Pranger gestellt. Doch das Gift der Verleumdung hatte ihn gebrochen. Ruths Mutter wusste, dass sie das Vertrauen ihres Mannes genoss, aber sie hatte nie wieder den Mut gehabt, ihren Schmuck und ihre Kleider zur Schau zu stellen, nicht in der Oper, nicht bei den abendlichen Wohltätigkeitsveranstaltungen der Gemeinde oder den vom Bürgermeister ins Leben gerufenen Klassik-Konzerten unter freiem Himmel. Sie hatte Angst, vom

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