Der Junge, der Träume schenkte
bevor sie eine Zeitschrift aufschlug und sich nicht weiter um Christmas kümmerte.
»Du musst den Eingang für das Hauspersonal nehmen«, sagte die ältere Frau zu Christmas.
»Geh raus, rechts um die Ecke und klopf am Ende der Gasse an eine grüne Tür. Auf der steht N. Y. Broadcast , du kannst nichts falsch machen«, erklärte der Wachmann, der sich gleich darauf von ihm abwandte, die Ellbogen auf den Empfangstisch stützte und sich zu der Vierzigerin vorbeugte. »Lena, ich habe zwei Karten für ...«
»Das interessiert mich nicht, Mark«, fiel sie ihm mürrisch ins Wort. »Bleib an deinem Platz und lauf nicht in der Gegend herum, du wirst dafür bezahlt, dass du aufpasst, wer hereinkommt. Zwing mich nicht, mich über dich zu beschweren.«
Der Mann lief rot an, schnaubte, trat vom Tresen zurück und wandte sich zur Eingangstür um. Christmas stand noch immer mitten in der Halle und starrte auf den großen Schriftzug N. Y. Broadcast . »Na los, worauf wartest du?«, raunzte der Wachmann ihn an. »Das hier ist der Eingang für die wichtigen Leute. Zieh Leine. Du bist nicht beim Radio, du arbeitest bloß im Lager.«
Christmas drehte sich um und ging hinaus.
Während er die sieben weißen Granitstufen hinabstieg, spürte er die Enttäuschung, die an ihm nagte. Auf der letzten Stufe jedoch drehte er sich noch einmal zum Eingang um und sagte, während ein gut gekleideter Mann mit einem glänzenden Lederkoffer das Funkhaus von N. Y. Broadcast betrat, mit leiser Stimme: »Eines Tages gehe ich durch diese Tür hinein, und Ruth wird meine Stimme hören.« Dann lief er am Gebäude entlang, bog um die Ecke in eine dunkle, mit leeren Kartons zugestellte Gasse und entdeckte ganz hinten eine grün lackierte zweiflüglige Metalltür, auf der in blank geputzten Messingbuchstaben die Aufschrift N. Y. Broadcast prangte. Christmas strich mit den Fingern darüber.
»Jetzt beweis mir, dass die Geschichte mit dem Radio nicht nur wieder so ein Blödsinn von dir ist, Junge«, hatte Arnold Rothstein zwei Tage zuvor zu ihm gesagt, nachdem er ihn in den Lincoln Republican Club hatte rufen lassen.
Anfangs hatte Christmas nicht begriffen. Mit verschränkten Armen hatten Lepke und Gurrah ihn beobachtet, während Rothstein ihm erklärt hatte, er habe ihm mithilfe gewisser Freunde einen Job bei einer Radiostation verschafft. Christmas bekam nicht einmal ein »Danke« heraus. Mit offenem Mund stand er da und fragte schließlich wie benommen: »Radio?«
Alle brachen in Gelächter aus. Rothstein klopfte ihm auf die Schulter, nahm seine Hände und drehte seine Handflächen nach oben. Sie waren schwarz und rissig. »Besser als Dächer zu teeren, oder?«, sagte er.
»Ich schulde Ihnen einen Gefallen, Mr. Big«, antwortete Christmas.
Da lachten wieder alle. Am lautesten, hoch und schrill, Gurrah, dem die Pistole herunterfiel, während er sich auf die Schenkel klopfte und andauernd wiederholte: »Er schuldet dir einen Gefallen, Boss!«
Erst nachdem das allgemeine Gelächter abgeklungen war, gelang es Christmas, Arnold Rothstein, dem Mann, der New York regierte, ins Gesicht zu sehen. Und Rothstein lächelte so wohlwollend, wie es einem Mann wie ihm möglich war. Er legte ihm die Hand in den Nacken und führte ihn zum Billardtisch. Nachdem er sämtliche Kugeln beiseitegeräumt hatte, holte er aus seiner Westentasche zwei Würfel aus schneeweißem Elfenbein hervor und drückte sie Christmas in die Hand. »Lass mal sehen, ob du Glück hast. Elf gewinnt, sieben verliert.«
Während Christmas nun an seinen Wurf zurückdachte, zeichnete er unablässig die Messingbuchstaben auf der grünen Tür nach. N. Y. Broadcast .
»Nimm deine Schmuddelfinger von meiner Aufschrift«, herrschte ihn von hinten jemand an.
Christmas drehte sich um und bemerkte in der Mitte der Gasse einen hageren, gekrümmt gehenden Schwarzen, dessen eines Bein kürzer war als das andere. Der Schwarze zog einen Schlüsselbund aus der Tasche seines Arbeitsanzugs, kam auf Christmas zu und stieß ihn zur Seite. Mit seinem baumwollenen Jackenärmel wischte er über die Buchstaben, bevor er einen der Schlüssel ins Schlüsselloch der Tür steckte. Er hatte ein welkes, faltiges Gesicht wie die alten Austernfischer aus der Gegend um South Street und Pike Slip, die auf dem East River, unterhalb der Manhattan Bridge, lebten, und gelbliche, von winzigen scharlachroten Äderchen durchzogene, hervorstehende Augen. Dabei war er höchstens vierzig Jahre alt.
Er schloss auf und wandte sich nach
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