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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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»Wollen Sie es reparieren?«
    »Verstehst du das unter still sein?«
    Christmas beobachtete weiter Cyrils knochige Hände, die sich schnell und geschickt bewegten. Nachdem er die Schutzkappe des Mikrofons abgeschraubt hatte, legte er den Schraubenzieher beiseite, steckte einen Finger in ein Kabelknäuel, zog es vorsichtig heraus und rief schließlich: »Ah, da bist du ja, du Bastard!«
    » Da bist du ja ? Wen meinen Sie?«, fragte Christmas.
    Cyril gab keine Antwort. Erneut griff er nach dem Schraubenzieher, löste im Inneren des Mikrofons eine Klemme, wickelte ein Stück Bleidraht ab, legte ein Kabel auf eine Scheibe und schmolz mit dem Lötkolben zwei Tropfen Blei, in die er das zerfaserte Kabelende eintauchte. Er pustete darauf, prüfte die Lötstelle, schraubte die Klemme wieder fest, verstaute die Kabel ordentlich an ihrem Platz und befestigte den Metallpanzer. Mit einem fettverschmierten Lappen polierte er schließlich die Chromteile des Mikrofons und steckte es auf eine Platte. »Du Bastard legst mich nicht herein«, sprach er ins Mikrofon. Und vom anderen Ende des Lagerraums her verstärkte ein Lautsprecher seine Stimme. Cyril lachte, zog das Mikrofon heraus und packte es wieder in einen weißen Pappkarton zu seiner Linken, auf dem geschrieben stand: Studio A – IV. OG – Toneffekte .
    Er streckte sich und holte dann aus einer identischen Schachtel zu seiner Rechten eine Röhre hervor. Er hielt sie ins Licht der Tischlampe und untersuchte sie schweigend. Kopfschüttelnd wickelte er sie in einen dicken Lappen. Dann nahm er einen kleinen Hammer zur Hand und schlug entschlossen zu. »Leb wohl, Jerusalem«, sagte er, als das Glas zersprang. Er klappte den Lappen auf, pickte mit der Pinzette einige dünne Glühfäden heraus und sammelte sie in einer Schachtel, bevor er mit dem Lappen in der Hand aufstand. »Musst du mir genau zwischen den Füßen herumstehen, Junge?«, fragte er, während er zu einem Metallkorb hinüberging, in den er die Glasscherben ausleerte. Als er zum Werktisch zurückkehrte, hielt Christmas ein altes Foto in der Hand, das eine schwarze Frau mit starrem und dennoch eindringlichem Blick zeigte. Sie stand, beide Hände auf die Rückenlehne gestützt, hinter einem Stuhl, auf dem ein Mantel und ein Hut lagen.
    »Ist das Ihre Mutter?«, fragte Christmas.
    Cyril nahm ihm das Foto aus der Hand und legte es zurück auf den Tisch. Nachdem er sich wieder hingesetzt hatte, holte er aus einer anderen Kiste ein Pult mit Schiebereglern hervor. Er griff sich einen Schraubenzieher und machte sich schweigend daran, es in seine Einzelteile zu zerlegen.
    Christmas stand einen Moment lang wie angewurzelt da, dann drehte er sich um und ging hinüber zum anderen Ende des Lagerraums, wo er sich entmutigt auf den Boden setzte. Wenig später hörte er aus dem Lautsprecher über seinem Kopf ein elektrostatisches Knacken.
    »Wie alle Weißen hast du keine Ahnung, Junge«, schallte Cyrils verstärkte Stimme durch den Raum. »Das ist nicht meine Mutter. Das ist Harriet Tubman. Sie war eine Sklavin. Ihr Besitzer verlieh sie an andere Sklavenhalter. Man hat sie geschlagen, in Ketten gelegt, ihr Schädel und Knochen zertrümmert, sie musste zusehen, wie ihre Schwestern an andere Besitzer verkauft wurden. Und als sie fliehen konnte, hat ihr Mann, ein freier Schwarzer, sie aus Angst um das Nichts, das er besaß, verlassen. Von da an hat Harriet Dutzenden von Sklaven zur Flucht verholfen. Nach dem Bürgerkrieg waren vierzigtausend Dollar Belohnung auf ihren Kopf ausgesetzt, mehr als auf irgendeinen Verbrecher damals. Grandma Moses, wie wir sie nennen, war nämlich für euch Weiße schlimmer als ein Verbrecher. Sie sprach von Freiheit, und das ist ein Wort, das nur ihr Weißen in den Mund nehmen dürft. Im Mund eines Schwarzen dagegen wird es zum Verbrechen. Bis zum Schluss hat sie für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft. Am zehnten März 1913 ist sie hier in New York County gestorben. Und jeden zehnten März spucke ich ihr zu Ehren auf irgendetwas, das einem Weißen gehört. Lass deshalb nichts von dir herumliegen an dem Tag, du bist jetzt gewarnt.«
    Christmas verharrte eine Weile schweigend. »Meine Mutter ist Italienerin«, sagte er schließlich. »Und man hat sie wie eine Art Schwarze behandelt.«
    »Unsinn«, gab Cyril zurück. Dann verriet ein Knacken, dass der Lautsprecher ausgesteckt wurde.
    Einige Minuten lang fiel kein einziges Wort mehr. Cyril saß über seine Arbeit gebeugt. Christmas hockte auf dem

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