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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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einander zunickten.
    »Eine üble, ziemlich ungesunde Gegend war das rund um die Kreuzung von Cross, Anthony, Orange und Little Water ... Ihr kennt diese Straßen nicht?«
    Die Putzhilfen schüttelten den Kopf.
    »Nie gehört«, murmelte Betty vor sich hin.
    »Dabei wette ich, ihr seid schon dutzende Male dort vorbeigekommen«, fuhr der Sprecher fort, als hätte er die Antwort gehört. »Anthony Street ist die heutige Worth Street ...«
    Karl sah die Putzangestellten mit offenem Mund staunen. Und verblüfft dachte er: Das ist die Straße, in der die Eisenwarenhandlung meines Vaters liegt. Die Straße, in der ich aufgewachsen bin.
    »... die Orange heißt jetzt Baxter. Und die Cross ist die Park Street. Little Water dagegen gibt es nicht mehr ... Und, wie oft seid ihr nun schon diese geschichtsträchtigen Wege entlangspaziert?«
    Ungläubig schüttelten die Putzangestellten den Kopf. Und auch Karl war überrascht und fasziniert. Er schob sich durch die Gruppe nach vorn und versuchte, einen Blick in Studio drei zu werfen, doch er sah nur die dunkle Silhouette eines Mannes, der mit dem Mikrofon in der Hand über den Tisch gebeugt saß.
    »Und an diesem seltsamen Ort, der mit all seinen Kneipen und Tanzsälen so etwas wie der Vorläufer von Coney Island war und an dem Leute wie wir, Matrosen, Austernverkäufer, Arbeiter und kleine Angestellte, verkehrten, wurde die Gangsterkultur geboren, wobei es damals sehr viel verrohter zuging als heute ...«
    Karl war gefesselt und lauschte ebenso still und gebannt wie die Putzangestellten ringsum.
    »Es ist spät. Zeit, sich von dir zu verabschieden, New York ...«
    Ein enttäuschtes Raunen ging durch die Zuhörerschaft.
    »Aber ich bin bald wieder da und erzähle euch von den Slums, den Anwerbern, der Old Brewery, von Moses dem Riesen, von Gallus Mag und Hell-Cat Maggie, einer Frau, der ihr lieber nie über den Weg laufen möchtet ...«
    Die Putzangestellten kicherten leise und stupsten einander mit dem Ellbogen an. Karl grinste mit ihnen.
    »Und ich verrate euch, was die Gangster von heute so treiben, die, mit denen ich tagtäglich zu tun habe, und die euch auf den Straßen begegnen in ihren grellbunten Seidenanzügen. Ich bringe euch bei zu sprechen wie sie und erzähle euch von den fantastischen Abenteuern, die sich in den Gassen unserer Stadt zutragen ...«
    »Wann?«, fragte einer aus der Putzkolonne unbedarft.
    »Zum Abschied erzähle ich euch eine kleine Geschichte von Monk Eastman, aus den Anfängen seiner blutigen Karriere, als er Türsteher in einem Tanzsaal in der East Side war und im Lokal mit einem mächtigen Knüppel für Ruhe sorgte. In den Knüppel ritzte er für jeden randalierenden Gast, den er niederstreckte, gewissenhaft eine Kerbe. Eines Abends, müsst ihr wissen, trat Monk auf einen friedlichen alten Herrn zu und spaltete dem armen Kerl mit einem fürchterlichen Hieb den Skalp ...«
    »Oh ...«, stieß eine beleibte schwarze Frau neben Karl hervor und schlug sich die Hand vor die Brust.
    »Psst!«, wisperte Betty.
    »Als Monk gefragt wurde, wieso er das getan habe, antwortete er: ›Tja, auf dem Knüppel waren schon neunundvierzig Kerben, und ich wollte eine runde Zahl haben ...‹«
    Die Putzangestellten und Karl lachten leise.
    »Jetzt verabschiede ich mich von euch. Ich muss mir eine Ratte vorknöpfen, die als Maulwurf aufgeflogen ist, und in meinem Speakeasy die Schmiere kassieren«, schloss die Stimme. »Gute Nacht, New York. Und denk daran ... die Diamond Dogs wachen über deine Geschichten.«
    Ein Knacken verriet, dass das Mikrofon ausgeschaltet wurde.
    Das ist die Geschichte Amerikas!, dachte Karl, und nach einem Moment der Stille begann er zu applaudieren. Und die Putzangestellten klatschten mit ihm.
    Da hörte man, wie mit aller Hast ein Stuhl vom Tisch abgerückt wurde, und als Karl das Studiolicht einschaltete, blickten alle auf einen verängstigt wirkenden blonden Jungen von ungefähr zwanzig Jahren mit bis zum Ellbogen aufgekrempelten Hemdsärmeln, der sie mit schreckensweiten Augen ansah und stotternd zu Karl sagte: »Verzeihen Sie ... ich ... Verzeihen Sie ... ich bin schon weg ...«
    »Wie heißt du?«, fragte Karl.
    »Ich bitte Sie, werfen Sie mich nicht raus ...«
    »Wie heißt du?«
    »Christmas Luminita.«
    »Kennst du wirklich viele solcher Geschichten?«
    »Ja ... Sir ...«
    »Zehn Uhr. Morgen früh. Hier«, sagte Karl mit einem Lächeln. »Dann nehmen wir die erste Folge auf.«

42
    Los Angeles, 1927
    Bill war mit dem Abbau eines

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