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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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war und mehr arbeitete, als sein Vertrag es verlangte, machte er Karriere und war als Abteilungsleiter bei N. Y. Broadcast nicht nur für den Sendeablauf, sondern auch für neue Programmvorschläge zuständig.
    Wie so häufig saß Karl auch an diesem Abend noch bis spät in die Nacht in seinem Büro und suchte nach einer Idee, wie er ein langweiliges Kulturprogramm ersetzen konnte, in dem ein Universitätsprofessor, der mit einem Mitglied der Führungsetage befreundet war, über die Geschichte Amerikas dozierte, ohne die Hörer auch nur im Geringsten zu fesseln. Der Professor gebrauchte zu viele komplizierte Wörter. Seine näselnde Gelehrtenstimme könnte sogar einen mit Kaffee vollgepumpten Menschen für eine Woche einschläfern, dachte Karl. Der Historiker wusste einfach nicht, zu wem er sprach, er hatte keine Ahnung von den Menschen, an die er sich wandte, und es war ihm nicht im Mindesten daran gelegen, sie zu verstehen.
    Wenn es jedoch das Ziel von N. Y. Broadcast war, das Radio in die Häuser der einfachen Leute zu bringen, dann, so hatte Karl der Geschäftsleitung schon mehrmals erklärt, musste das Radio auch die Sprache der einfachen Leute sprechen, ihre Sorgen und Träume kennen.
    Karl rieb sich die müden Augen. Entmutigt schlug er die Mappe zu, in der er seine Ideen für neue Programme sammelte, und schlüpfte in Jacke und Mantel. Er fühlte sich niedergeschlagen. Seit Wochen bereits zermarterte er sich den Kopf auf der Suche nach einem Weg, wie sich die Geschichte Amerikas anders, aufregender erzählen ließ. Karl schloss sein Büro ab, wickelte sich den warmen Kaschmirschal, den sein Vater ihm geschenkt hatte, um den Hals und nahm die Treppe nach unten, da es ihm nachts nicht geheuer war, einen der beiden Aufzüge zu benutzen. Um die Zeit hatten die beiden Fahrstuhlführer Feierabend, und der Nachtwächter war bekannt für seinen festen Schlaf. Blieb Karl im Fahrstuhl stecken, würde er womöglich ausharren müssen, bis die Fahrstuhlführer am nächsten Morgen ihren Dienst antraten. Daher ging er, wenn er bis spät arbeitete, immer zu Fuß hinunter.
    Dämmerung und Stille lagen über dem Gebäude. Karls Schritte klapperten auf den Stufen. Als er sich jedoch dem zweiten Stock näherte, hörte er eine Stimme durch das Treppenhaus hallen. Verstärkt, warm, rund. Fröhlich und lebhaft. Karl kannte die Stimme nicht. Er öffnete die Tür zum zweiten Stock und schlich auf leisen Sohlen durch den Gang, an dem die Aufnahmestudios lagen.
    Vor Studio drei entdeckte er eine kleine Menschentraube.
    »... die Gangster-Grundregel nämlich«, sprach die Stimme, die nun lauter und deutlicher zu hören war, »lautet, dass einem eine Sache nur gehört, solange man es schafft, sie zu behalten ...«
    Karl trat noch ein wenig näher. Ein Mann aus der kleinen Gruppe, die sich vor Studio drei versammelt hatte, drehte sich um und bemerkte ihn. Es war ein Schwarzer, der einen Schrubber und einen Putzeimer in der Hand hielt. Das Weiß in seinen großen Augen blitzte in der Dunkelheit auf. Besorgt tippte er der Frau, die vor ihm stand, auf die Schulter. Sie drehte sich ebenfalls um, und auch auf ihrem dunkelhäutigen Gesicht zeigte sich ein unbehaglicher Ausdruck. Die Frau öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Karl winkte ab und legte dann den Finger an die Lippen, damit sie schwieg. Als er sich zu der Gruppe gesellte, bedeutete er jedem, der sich nach ihm umdrehte, still zu sein. All diese Leute waren Schwarze und gehörten zur Putzkolonne.
    »Ihr fragt euch sicher, woher ich das alles weiß«, fuhr die Stimme fort. »Nun, das ist ganz einfach. Ich bin einer von ihnen. Ich bin der Anführer der Diamond Dogs, der berühmtesten Gang der Lower East Side. Früher war ich ein armer Schlucker ...«
    Karl legte der Frau, die in seinem Büro putzte, sanft die Hand auf die Schulter. »Hallo, Betty«, flüsterte er ihr zu.
    »Guten Abend, Mr. Jarach«, sagte die Schwarze erschrocken.
    »Wer ist das?«, fragte Karl sie leise und zeigte auf das im Dunkeln liegende Studio drei.
    Betty zuckte die Schultern. »Wir wissen es nicht.«
    Und Karl erkannte, dass die Frau aus purer Höflichkeit mit ihm sprach. In Wahrheit hätte sie nichts lieber getan, als einfach nur der Stimme zu lauschen. Karl lächelte ihr zu und schwieg.
    »... alles beginnt in den Five Points im Bloody Ould Sixth Ward, wie er damals hieß, im Sechsten Distrikt. Aber das war zum Glück vor meiner und eurer Geburt ...«
    Karl sah, wie die Putzangestellten lächelten und

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