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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Indianer ja recht, wenn sie meinen, dass Fotos einem Menschen die Seele stehlen. Aber ich habe sie Barrymore zurückgegeben.«
    »Also ... ich verstehe kein Wort«, bekannte Clarence und schnitt eine komische Grimasse. »Ich weiß nur, dass nun ganz Hollywood nach dir fragt. Dein Terminkalender ist voll.«
    In den folgenden Wochen fotografierte Ruth John Gilbert, William Boyd, Elinor Fair, Lon Chaney, Joan Crawford, Dorothy Cumming, James Murray, Mary Astor, Johnny Mac Brownsville, William Haines, Lillian Gish. Sowohl die Stars als auch die Produzenten waren begeistert von Ruths geheimnisvollen, eindringlichen, düsteren, dramatischen Aufnahmen. Und als Douglas Fairbanks jr., der während ihres Termins übertrieben viel gelächelt hatte, die Fotos seiner Kollegen sah, bestand er auf einer weiteren Sitzung und versprach Ruth, ihren Anweisungen diesmal aufs Wort zu folgen.
    Paramount, Fox und MGM begannen, Clarence Bailey zu bedrängen, weil sie Ruth exklusiv für sich wollten, mit dem einzigen Ergebnis, dass ihr Honorar in schwindelerregende Höhen stieg.
    An diesem Samstagmorgen war Ruth in den Paramount-Studios mit Jeanne Eagels verabredet. Die Schauspielerin hatte im Jahr zuvor einen Film für MGM gedreht, doch nun schien Paramount ganz stark auf sie zu setzen. Für das folgende Jahr war sie für zwei Hauptrollen vorgesehen.
    Ruth fand die Schauspielerin in einer Ecke eines großen Studios sitzend. Die gesamte Halle lag im Halbdunkel. Beleuchtet war einzig der Bereich, in dem die Komparsen geschminkt und angekleidet wurden. Jeanne Eagels saß auf einem Stuhl und ließ sich von einer Friseurin kämmen. Während Ruth zu ihr hinüberging, konnte sie immer deutlicher die Gesichtszüge der Schauspielerin erkennen. Ihr Haar war platinblond, ihre Haut auffallend hell. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, und Ruth fiel auf, wie schlank ihre Fesseln waren. Nicht anders die Handgelenke, die beinahe kraftlos, wie kristallen wirkten. Mit finsterer Miene knetete die Schauspielerin die Hände. Aus der Nähe sah Ruth, dass Jeanne Eagels sehr dünn und von unschuldiger und zugleich dunkler Schönheit war und ihre Atemlosigkeit zu verbergen versuchte. Ihre Kleidung war dezent: ein knielanger grauer Rock, schwarze Schuhe, hautfarbene Strümpfe, eine weiße Bluse und eine kurze Perlenkette.
    »Ich bin noch nicht fertig«, sagte sie in gereiztem Ton, als sie Ruth bemerkte. Im nächsten Augenblick wandelte sich ihre Miene, und ihre Augen nahmen einen verwirrten Ausdruck an. Sie biss sich auf die schmale Unterlippe und schenkte Ruth ein Lächeln. »Eigentlich habe ich ein Engagement am Theater«, erklärte sie. »Man hat mich extra wegen der Fotos hierherbestellt.«
    »Sie müssen müde sein«, sagte Ruth.
    Jeanne Eagels schwieg. Erneut schlug ihr Gesichtsausdruck um, als würde sie plötzlich von Furcht überwältigt. Sie wich dem Kamm der Friseurin aus und suchte mit bangem Blick das schummrige Studio ab. Dann legte sie eine Hand auf ihre Brust, als wollte sie ihren Atem beruhigen, sah Ruth an und lachte. Leise, freudlos, doch mit überraschender Freundlichkeit.
    Sie war über dreißig, sah aber aus wie eine Zwanzigjährige – eine Zwanzigjährige mit dem Blick einer erfahrenen Frau. Das werden interessante Fotos, dachte Ruth.
    Abrupt sprang Jeanne Eagels auf, durchwühlte ihre Handtasche und zog eine Zigarette hervor. Sie drehte sie unangezündet zwischen ihren Fingern und blickte dabei unentwegt hinüber zum Studioeingang. Als sie aus dem Halbdunkel Schritte hörte, reckte sie ihren schmalen Hals und hörte beinahe auf zu atmen. Ihr Gesichtsausdruck war dramatisch und eindringlich.
    Ruth richtete die Kamera auf sie und drückte auf den Auslöser.
    »Nein!«, schrie Jeanne Eagels sofort. Dann blickte sie wieder in Richtung der sich nähernden Schritte. »Bist du das, Ronald?«, fragte sie mit vor Anspannung zitternder Stimme.
    »Ja«, erwiderte eine hohe Stimme rau.
    Ein Lächeln erhellte Jeanne Eagels’ Gesicht. Ohne es jedoch zum Strahlen zu bringen, dachte Ruth. Die Schauspielerin ging hinüber zur Treppe, die zu den oberen – den Hauptdarstellern vorbehaltenen – Garderoben führte. Mit der Hand am Geländer eilte sie die Stufen hinauf. Oben angekommen, drehte sie sich noch einmal um. Ein schmächtiger Mann mit einem tief in die Stirn gezogenen Strohhut folgte ihr bedächtig, fast träge. Er trug einen ledernen Arztkoffer bei sich. Die beiden zogen sich in eine Garderobe zurück.
    Ruth sah die Friseurin fragend an.

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