Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
Die wandte sogleich verlegen den Blick ab.
    Keine zehn Minuten später erschien Jeanne Eagels wieder oben in der Garderobentür. Mit gemäßigten, leichtfüßigen, kaum merklich unsicheren Schritten kam sie die Treppe hinunter, als schwebte sie. Sie nahm vor dem Spiegel Platz und richtete ihr Haar. Dann wandte sie sich zu Ruth. »Was ist, fangen wir an?« Das Lächeln, das sie ihr schenkte, wirkte engelsgleich und unnahbar.
    »Können wir die Aufnahmen hier machen?«, fragte Ruth. »Ich würde gern die Spiegel nutzen.«
    Ohne zu antworten, schloss Jeanne Eagels halb die Augen und neigte den Kopf in den Nacken zu einer sinnlichen, hingegebenen Pose. Sie wirkte passiv, gleichgültig. Ruth drückte auf den Auslöser. Die Schauspielerin schlug die Augen auf und sah sie mit einem entwaffnenden Lächeln im Spiegel an. Ruth fotografierte. Daraufhin legte Jeanne Eagels den Kopf auf den Schminktisch. Im Schein der Spiegelleuchten ergoss sich ihr platinblondes Haar über die Holzplatte. Klick machte der Auslöser. Die Schauspielerin berührte mit einer Hand ihre Schulter und schloss dabei die Augen. Ihre Hände bewegten sich nun sanft und zeigten kein Anzeichen mehr von Ruhelosigkeit, wie noch kurz zuvor. Ruth fotografierte. Die Schauspielerin lachte und öffnete leicht den Mund. Das Klicken des Auslösers war das einzige Geräusch im Raum. Wie liebkosend glitt die Hand von der Schulter zum Hals. Auch das hielt Ruth fest. Da drehte Jeanne sich um und richtete sich, die Hände im Schoß und den Kopf leicht zur Seite geneigt, auf dem Stuhl auf.
    Ruth fotografierte. Die Aufnahmen werden fantastisch, dachte sie. Aber anstatt sich darüber zu freuen, empfand sie bei dem Gedanken Unbehagen.
    »Sie haben einen Fleck auf der Bluse«, sagte Ruth, ließ die Kamera sinken und zeigte auf die rechte Ellenbeuge der Schauspielerin.
    Jeanne Eagels reagierte langsam. Sie lächelte Ruth zunächst kühl an, bevor sie auf den kleinen roten Fleck hinunterblickte, der sich auf dem weißen Stoff ausdehnte. Sie bedeckte ihn mit der Hand. »Lippenstift«, erklärte sie.
    Doch Ruth wusste es besser: Es war Blut, das aus einer winzigen Wunde an der Armvene austrat. Und während die Schritte des Mannes mit dem Arztkoffer auf der Treppe widerhallten, begriff Ruth mit einem Mal, wo Jeanne Eagels’ Verwandlung herrührte. Und ihr wurde klar, weshalb ihr der Gedanke daran, wie gut die Fotos werden würden, keine Freude bereitet hatte. Ruth wusste nun, wen sie da fotografierte. Ganz zu Anfang hatte sie Fotos von Frauen gemacht, deren Blicke ebenso abwesend waren, ebenso verloren. Sie hatte sie im Newhall Spirit Resort for Women fotografiert. Ruth wusste, was sich hinter diesen Pupillen verbarg, die so klein waren wie Stecknadelköpfe: Verzweiflung. Unterlegenheit. Tod.
    Sie fotografierte den Tod ...
    »Wir sind fertig«, sagte sie hastig.
    »Ach ja?«, gab Jeanne Eagels kühl und teilnahmslos zurück.
    Ruth verstaute den Fotoapparat in ihrer Tasche und floh förmlich aus dem Studio. Erst als weitab von Hollywood das gleißende Licht der kalifornischen Sonne sie umfing, blieb sie stehen und sah sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Vielleicht in Downtown, vielleicht nicht weit vom Meer entfernt. Das hier war die wirkliche Welt. Die Welt, vor der sie sich schon zu lange versteckte. Seitdem sie New York verlassen hatte und nach Kalifornien gezogen war. Seitdem sie Christmas und sich selbst verloren hatte.
    Und dann hast du dir eingeredet, du hättest dich wiedergefunden, dachte sie.
    Ein weiteres Mal hatte sie die Augen verschlossen und sich in einem Akt der Selbsttäuschung eingeredet, sie seien weit geöffnet hinter dem Objektiv ihrer Leica. Im Zimmer einer Fotoagentur hatte sie sich verschanzt und zugelassen, dass ein gütiger alter Mann mit Beschützerinstinkt zum Puffer zwischen ihr und der Wirklichkeit wurde. Sie hatte sich vorgemacht, Stars zu fotografieren, hieße zu leben. Die gleichen Stars, die ihr an dem Abend, als sie versucht hatte, sich umzubringen, wie Heuschrecken erschienen waren. Die gleichen Stars, die wild mit den Flügeln schlugen, weil sie wussten, dass ihnen nicht viel Zeit vergönnt war, weil sie nur einen kurzen Traum lebten. Oder einen Albtraum, wie Jeanne Eagels ... oder John Barrymore ... oder sie selbst, Ruth ...
    Sie setzte sich auf die Stufe vor einem verschlossenen Hauseingang und stützte den Kopf in die Hände. Ringsum hörte sie Leute reden. Möwen schrien am Himmel, aus einem Fenster schallte Musik zu ihr heraus. Um

Weitere Kostenlose Bücher