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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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sie herum dröhnten die Motoren der Autos. Ich habe mir die ganze Zeit die Ohren zugehalten, dachte sie. Ich habe nicht hingeschaut, nichts gehört. Ich habe nur so getan, als schaute ich hin, als hörte ich etwas. Ich habe mich hinter einer alten Daguerreotypie von Opa Saul versteckt und ihn in Clarence Baileys gutmütigen Augen wieder aufleben lassen. Ich habe Christmas in einem scheußlichen Lackherz versiegelt, das nachts bei mir ist. Ein lebloser Gegenstand.
    Du bist allein, sagte sie sich, während sie wahrnahm, wie ringsum Menschen vorbeieilten, einander riefen, lachten, sich beschimpften.
    Sie selbst hatte sich von Geistern ernährt. Vom Geist des Großvaters, von Christmas’ Geist. Der eine war tot. Der andere war wie tot, da sie nicht den Mut aufbrachte, ihn zu suchen, nachzusehen, ob er noch lebte, für sie lebte.
    Du bist allein, sagte sie zu sich und empfand dabei tiefen Schmerz.
    Da stand sie auf, holte ihre Leica aus der Tasche und begann, ohne Hast und ohne Ziel durch die unbekannten Straßen zu spazieren. Mit dem einzigen Wunsch, aus ihrem Gefängnis auszubrechen. Dem Gefängnis, dessen Mauern und Gitter sie selbst errichtet hatte. Dem Gefängnis, zu dem sie den Schlüssel verloren hatte. Mit aufmerksamem Blick spazierte sie umher, wie sie es lange nicht getan hatte, zu lange. Sie schaute hin und versuchte zu sehen. Sie lauschte und versuchte zu hören.
    In einer finsteren Gasse entdeckte sie einen Obdachlosen, der im Dreck lag und schlief. Sie schoss ein Foto, dann noch eins. Schließlich ließ sie die Leica sinken und betrachtete ihn. Mit ihren eigenen Augen. Und sie nahm den strengen Geruch wahr, der von ihm ausging.
    Dann ging sie weiter, pirschte sich in die Straßen der ihr fremden Stadt vor wie in einen geheimnisvollen Dschungel.
    In einem kleinen Geschäft sah sie eine korpulente Frau ein geblümtes Kleid anprobieren. Verzweifelt mühte sich die Verkäuferin, die Knöpfe zu schließen. Die Kundin blickte beschämt drein. Ruth nahm die Leica hoch und fotografierte die Szene durch das Schaufenster hindurch. Die beiden Frauen bemerkten sie und blickten verwundert zu ihr herüber. Zwischen der Kundin und der Verkäuferin war, unscharf im Vordergrund, in schwarz umrandeten Goldbuchstaben der Schriftzug Clothes zu erkennen.
    Ruth ging immer weiter. Alles kam ihr nun verändert vor. Als gehörte sie wieder zu dieser Welt, der normalen Welt. Als atmete sie endlich wieder. Wie damals, als sie die Verbände abgenommen hatte, die ihr Brust und Lunge abgeschnürt hatten. Es war, als könnte sie von nun an nicht mehr weglaufen.
    Erst spät am Abend kehrte sie in die Fotoagentur zurück und verbrachte die Nacht damit, all die Aufnahmen, die sie gemacht hatte, zu entwickeln. Ein Mann mit unfassbar vollgestopftem Mund und seine resigniert dreinblickende Frau im Restaurant. Eine Kellnerin in Dienstkleidung, die sich, eine Zigarette im Mund, im Hinterraum des Restaurants die Füße massierte. Eine lange Reihe Gebrauchtwagen, deren Preise auf die Frontscheiben gemalt waren, und ganz hinten der Verkäufer, klein, einsam, ohne Kundschaft. Ein Mann und eine Frau, die sich küssten, während der kleine Sohn die Mutter am Rock zog und vor Eifersucht weinte. Eine Frau mit einem blutunterlaufenen Auge beim Wäscheaufhängen. Ein alter Mann im Schaukelstuhl auf der maroden Veranda seines Hauses. Ein Junge, der einen Müllsack wegwarf.
    Am nächsten Morgen überreichte sie Clarence Bailey die Fotos. Die wenigen Porträts von Jeanne Eagels und die Aufnahmen aus Los Angeles.
    »Hast du vor, einen anderen Weg einzuschlagen?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Ruth.
    Gedankenverloren steckte Clarence die Fotos von Jeanne Eagels in einen Umschlag für Paramount. Danach betrachtete er erneut bedächtig und aufmerksam Ruths Aufnahmen aus Downtown. »Die sind bewegend«, sagte er.
    Ruth machte es sich zur Gewohnheit, mit ihrer Leica durch Los Angeles zu ziehen. Systematisch, jeden Tag. Um bewegende Motive einzufangen, sagte sie sich. Doch ohne es zu bemerken, machte sie sich in Wahrheit mit jedem Tag, mit jedem Foto, ein wenig mehr mit dem Leben vertraut. Es war, als lernte sie es noch einmal von Grund auf neu. Als wäre ihr zielloses Umherlaufen eine Art Schule.
    Und nach zwei Wochen fiel ihr auf, dass ihre Fotos nun auch lachende Menschen zeigten. Noch immer waren es keine fröhlichen Aufnahmen, sie behielten ihre eindringliche, düstere Prägung, doch es war, als würde sie schwächer. Oder aber als weitete sich Ruths

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