Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
Blickfeld, damit sie mit dem Objektiv das Leben in all seinen Facetten einfangen konnte. Ein Leben mit Licht und Schatten.
    Abend für Abend jedoch, wenn sie ihre Zimmertür schloss, dachte sie: Du bist allein.
    Eines Sonntags – auf dem Rückweg vom allwöchentlichen Besuch bei Mrs. Bailey im Newhall Spirit Resort for Women – entdeckte Ruth einen Park voller Kinder und bat Clarence, sie aussteigen zu lassen. Unternehmungslustig machte sie sich zu Fuß auf den Weg in den Park. Je näher sie kam, desto deutlicher wurde das aufgeregte Kindergeschrei. Und nach der katatonischen Stille der Klinik entlockte es Ruth ein Lächeln. Sie setzte sich auf eine Bank und sah den Kindern beim Spielen zu. Plötzlich musste sie an die reichen Kinder denken, die sie bei ihrem ersten Fotoauftrag unbekümmert und fröhlich hätte zeigen sollen. Und sie erinnerte sich, welche Mühe es sie gekostet hatte, das Spielen und Lachen aus den Aufnahmen zu verbannen. Als wollte sie den Kindern eine Freude zurückgeben, die sie ihnen damals genommen hatte, richtete sie nun das Kameraobjektiv auf sie.
    Im Sucher erschien das drollige Gesicht eines Fünfjährigen. Er hatte sie bemerkt, schaute zu ihr herüber und warf sich kichernd in lustige Posen. Er hatte sehr kurz geschnittenes Haar, das seine abstehenden Ohren noch mehr zur Geltung brachte, und staksige Beine. Der Junge ahmte gerade einen Boxer nach. Ruth schmunzelte und drückte auf den Auslöser. Danach stellte er sich wie ein Cowboy auf, in der Hand eine imaginäre Pistole. Ruth fotografierte. Der Junge lachte voller Begeisterung über das außerplanmäßige Spaßprogramm. Er tanzte umher wie ein Indianer um den Marterpfahl. Ruth drückte auf den Auslöser.
    »Guck mal, ich bin Tarzan!«, rief der Kleine ihr zu und kletterte auf einen niedrigen Baum, wo er sich an einen Zweig hängen wollte wie an eine Liane. Er verlor jedoch den Halt und fiel hin, dabei schürfte er sich das Knie auf. Sofort bekam sein drolliges Gesicht einen verdrießlichen, betroffenen Ausdruck. Er blickte umher und brach schließlich in Tränen aus.
    Ruth stand von der Bank auf und lief zu ihm. Gerade als sie sich vorbeugte, um ihm aufzuhelfen, packten zwei starke, sonnengebräunte Hände den Jungen.
    »Nichts passiert, Ronnie«, tröstete ein junger Mann das Kind und nahm es auf den Arm. Er war groß und breitschultrig, und eine lange blonde Locke fiel ihm zerzaust in die Stirn. Seine gebräunte Haut brachte die klaren blauen Augen zum Strahlen. Er hatte volle, rote Lippen, die bei dem Lächeln, das er Ruth nun schenkte, leuchtend weiße, ebenmäßige Zähne offenbarten. Ruth schätzte, dass er wenige Jahre älter war als sie. Zweiundzwanzig vielleicht.
    »Es ist meine Schuld«, erklärte Ruth und blickte auf die Leica hinab. »Ich habe Fotos von ihm gemacht und ...«
    »Und Ronnie kann es nicht lassen, auf Bäume zu klettern, stimmt’s?«, tadelte der junge Mann das Kind in liebevollem Ton.
    Der Junge hörte auf zu weinen. »Ich wollte Tarzan, der König der Affen, sein«, sagte er schmollend und fuhr sich mit der Hand durch das verheulte Gesicht.
    »Stattdessen hast du mit deinem Hintern einen Krater in den Park gesprengt«, gab der junge Mann zurück und deutete auf das imaginäre Loch im Boden. »Sieh dir nur den Schaden an. Wenn die Bullen uns erwischen, nehmen sie uns fest und rösten uns auf dem elektrischen Stuhl.«
    Der Junge lachte. »Gar nicht wahr!«
    »Frag nur die junge Dame«, entgegnete der junge Mann und sah Ruth an. »Sagen Sie es ihm.«
    Ruth lächelte. »Na ja, ich kenne da ein paar Leute bei der Polizei, vielleicht kommen wir mit lebenslänglicher Haft davon.«
    Der junge Mann lachte.
    »Mein Knie tut weh«, jammerte Ronnie.
    Der junge Mann warf einen prüfenden Blick auf die Wunde. Betrübt schüttelte er dann den Kopf. »Verflixt, wir werden amputieren müssen.«
    »Nein!«
    »Die Verletzung ist zu schlimm, Ronnie. Uns bleibt nichts anderes übrig.« Der junge Mann wandte sich an Ruth. »Sie sind Krankenschwester, nicht wahr?«
    Verblüfft öffnete Ruth den Mund. »Ich ...«
    »Sie müssen ihm beistehen. Die Operation ist furchtbar, sehr schmerzhaft.«
    »In Ordnung«, erwiderte Ruth.
    »Schön, folgen Sie mir in den OP«, sagte der junge Mann und steuerte auf einen Trinkbrunnen zu.
    Ruth nahm die Leica hoch und schoss ein Foto. Dann ging auch sie zu dem Trinkbrunnen hinüber, wo der junge Mann gerade Ronnie auf dem Boden absetzte und ein Holzstöckchen aufhob. Er zog ein Taschentuch aus

Weitere Kostenlose Bücher