Der Junge, der Träume schenkte
konnten. Langsam löste sich Ruths innere Anspannung. Sie lachten und scherzten miteinander. Und nach und nach gelang es Ruth, die Angst abzuschütteln.
Als sie aufgegessen hatten, räumten sie Papier und Flaschen beiseite. Danach senkte sich ein verlegenes Schweigen über sie, aus dem keiner von beiden einen Ausweg fand. Und je länger das Schweigen anhielt, desto unbehaglicher wurde Ruth zumute. Sie ließ den noch warmen Sand durch ihre Finger rinnen.
Daniel legte seine Hand neben ihre.
Ruth betrachtete sie. Er hatte die langen, kräftigen Finger der Mutter.
»Ekelt es dich an?«, sagte Ruth unvermittelt. Sie vergrub die Hand im Sand.
»Was?«, fragte Daniel verwirrt.
»Mir fehlt ein Finger, ist dir das noch gar nicht aufgefallen?« Ruth hörte selbst, wie barsch ihre Stimme klang.
»Doch ...«, erwiderte Daniel und schob seine Hand zu ihrer, die sie nun unter dem Sand verborgen hatte. Langsam, ganz sanft berührte er sie. »Aber es gibt nichts an dir, was mich ...« Er stockte und schüttelte den Kopf. »Ich will das Wort nicht einmal in den Mund nehmen. Das ist absurd ...«
Am Horizont erinnerte ein matter orangefarbener Streifen noch immer an die untergegangene Sonne.
»Ruth ...«
Sie wandte den Kopf. Daniel sah ihr in die Augen und näherte sich ihr langsam. Ruth nahm seinen Geruch war. Ein sauberer, frischer Duft. Sie musste an die Lavendelsäckchen denken, die man in Schubladen zwischen die Wäsche legte. Ein Duft, der keine Angst einflößte, der nicht verstörte, der nach Familie roch.
Daniel legte seine Lippen an Ruths Mund. Eine zarte Berührung. Liebenswürdig wie Daniel selbst, dachte Ruth, während sie die Augen schloss und sich steif dem Kuss hingab. Ihrem ersten Kuss, dem Kuss, den sie Christmas nie gegeben hatte. Daniel nahm die Hand aus dem Sand, legte sie in Ruths Nacken und zog sie ein wenig forscher an sich. Sofort spürte Ruth, wie ihr Herz zu rasen begann. Sie versuchte, sich der Hand zu entziehen, aber Daniel war stark. Mit einem Mal war ihr, als könnte sie sich nicht mehr bewegen. Sie war gefangen. Ruth riss die Augen auf, während eine Welle der Angst über sie hereinbrach. Doch dann sah sie Daniels geschlossene Augen und die blonde Locke, die ihm zerzaust in die Stirn fiel. Das ist nicht Bill, dachte sie. Das ist Daniel, der Junge, der nach Lavendel riecht. Da versuchte sie, die Augen zu schließen, in der Nase den sauberen Duft, der ihr nach und nach das Gefühl von Gefahr nahm und die Angst zurückdrängte. Und ganz leicht öffnete sie die Lippen. Sie kostete Liebenswürdigkeit, nicht Gewalt, lauschte der lauen Empfindung dieses Kusses und versuchte, sich fallen zu lassen und die Vergangenheit zu überwinden.
In dem Moment aber streichelte Daniel ihre Schulter, bevor er die Hand an ihrer Seite hinabgleiten ließ und sie leidenschaftlich und ungestüm an sich zog.
»Nein!« Jäh löste Ruth sich von ihm. Sie bog den Rücken durch und entwand sich seiner Umarmung. »Nein«, sagte sie noch einmal, und aus ihren Augen sprach wieder die alte Angst.
»Ich ...«, stammelte Daniel, »ich ... wollte nichts Schlimmes tun ... Ich wollte nicht ...«
Ruth legte den Finger an seine schönen Lippen, die sie gerade noch geküsst hatte. Er verstummte. Sie spürte, wie der Atem ihre Brust weitete. Schmerzlich sehnte sie sich nach den Bandagen. »Ich will nicht, dass du mich anfasst.«
Beschämt senkte Daniel den Blick. »Bitte entschuldige, ich habe alles kaputt gemacht. Aber ich wollte nicht ...«
Er kann es nicht verstehen, dachte Ruth ohne Zorn. Daniel konnte nicht Bescheid wissen. Niemand wusste Bescheid, niemand außer Christmas, der Ritter aus der Lower East Side, den sie vor vier Jahren hatte küssen wollen, auf ihrer Bank im Central Park, für den sie einen Hauch Lippenstift aufgelegt hatte. Er allein wusste Bescheid. Er allein war imstande, die Mathematik neu zu erfinden, weil sie, Ruth, neun Finger hatte. Er allein hätte ganz Amerika dazu verpflichtet, nur noch bis neun zu zählen. Er allein hatte ihr neun Blumen geschenkt. Er allein hätte gewusst, wie er sie küssen musste.
Aber ihn gab es nicht mehr.
Jetzt gab es Daniel, und er war alles, was sie sich an Liebe erlauben konnte. Küss ihn noch einmal, zwang sie sich zu denken, während sie auf seine vollen Lippen blickte, die von ihrem keuschen Lavendelkuss glänzten. Und sie fühlte sich durchströmt von der beruhigenden Milde dieses lauen Gefühls.
»Du wirst Geduld mit mir haben müssen, Daniel«, sagte sie.
61
Los
Weitere Kostenlose Bücher