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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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du sie nicht draußen auf dem Meer gesehen hast.« Sein Blick war ungetrübt und aufrichtig. »Und ich glaube, genauso ist das bei dir mit den Fotos.«
    »Lädst du mich morgen wieder zum Abendessen ein?«
    »Klar.« Daniels Augen strahlten.
    »Lehn dich mal an die Laterne«, sagte Ruth. »Und bleib so stehen.« Sie holte ihre Leica hervor und machte ein Foto von ihm. »Bei dir zu Hause?«, fragte sie dann.
    »Halb sieben.«
    »Halb sieben.«
    Am Abend darauf zeigte Ruth beim Essen den Slaters ihre Aufnahmen von Ronnie. Und die von Daniel.
    Mrs. Slaters Augen wurden feucht, als sie das Foto ihres Ältesten betrachtete. Mit einem Finger fuhr sie über das Gesicht des Sohnes, der mit leicht gesenktem Kopf und zerzaust ins Gesicht hängender, glänzender Locke in starkem Hell-Dunkel-Kontrast zu sehen war.
    »Was hat sie denn?«, flüsterte Ronnie seinem Vater zu.
    »Nostalgiegefühle«, sagte Mr. Slater ernst und sah seine Frau an.
    Mrs. Slater ergriff die Hand ihres Mannes und drückte sie lächelnd.
    »Frauen!«, bemerkte Ronnie, und alle lachten.
    Auch Ruth stimmte in das Lachen ein und blickte zu Daniel hinüber.
    »Kann Ruth am Sonntag mit uns segeln gehen?«, fragte er da, ohne sie aus den Augen zu lassen.
    »Nun, wer nie riskiert hat, bei einem der Wendemanöver deiner Mutter zu ertrinken«, antwortete Mr. Slater, »gehört nicht richtig zur Familie.«
    Am Sonntag spürte Ruth noch das Salz in ihren Haaren, als Daniel sie einlud, ins Kino zu gehen. Ihr war, als hörte sie noch immer das Meerwasser gegen den Kiel schwappen und das laute Flattern der Segel im Wind. Und noch immer hatte sie das gleißende Licht vor Augen, das von der Meeresoberfläche wie von einem Spiegel zurückgeworfen wurde. Doch vor allem hörte sie immer wieder einen Satz. »So, jetzt gehörst du zur Familie«, hatte Mrs. Slater zu ihr gesagt.
    »Woran denkst du?«, wollte Daniel wissen.
    Ruth sah ihn an und lächelte. Er hätte es nicht verstanden, wenn sie es ihm erzählt hätte. »An nichts.«
    »Wollen wir ins Kino gehen?«, schlug Daniel erneut vor.
    »Alle zusammen?«, fragte Ruth strahlend.
    Für eine Sekunde verdüsterte sich Daniels Gesicht. »Ich dachte, du und ich. Allein.«
    Nein, er hätte es nicht verstanden, dachte Ruth. Er konnte nicht verstehen, welches Gefühl von Wärme ihr die Slaters vermittelten, wenn sie alle zusammen waren. Und wie sehr sie sich nach Wärme sehnte. »War nur ein Spaß«, sagte sie.
    Das Arcade am South Broadway Nummer 534, das in klassizistischem Stil erbaut war, wirkte streng mit seinen Säulen und rechteckigen Fenstern. Während Daniel zur Kinokasse ging, musste Ruth daran denken, dass es das Kino gewesen war, das sie aus New York gerissen, das ihren Vater zerstört und ihre Mutter zur Alkoholikerin gemacht hatte. Sie lief zu Daniel und zog ihn am Arm.
    »Ich muss weg«, sagte sie und las die Enttäuschung in seinen aufrichtigen Augen. »Du kannst das nicht verstehen. Und es hat auch nichts mit dir zu tun.«
    »Aber du musst weg«, sagte Daniel.
    »Ja.«
    »In Ordnung, ich bringe dich zurück zum Venice Boulevard«, sagte Daniel mit einem melancholischen Lächeln.
    »Wieso? Ich will nicht ins Kino gehen, aber ich will mit dir zusammen sein.«
    Daniels schönes Gesicht begann zu strahlen. »Wer interessiert sich schon für Kino!«, erwiderte er fröhlich. »Was willst du unternehmen? Sollen wir zu mir nach Hause zum Essen gehen?«
    Ruth dachte, dass sie nur den einen Wunsch hatte, sich wieder in das Haus der Slaters zurückzuziehen, in den Schoß der Familie. »Möchtest du mich vielleicht zum Essen ausführen? In ein Restaurant?«, fragte sie stattdessen.
    »Du und ich«, sagte Daniel leise und feierlich, wie zu sich selbst. Dann nahm er Ruths Hand. »Gehen wir!«
    Und in diesem Moment wirkte er auf Ruth wie ein Mann, nicht wie ein Junge.
    Als sie bei dem kleinen mexikanischen Restaurant an der La Brea ankamen, teilte der Kellner ihnen mit, der nächste Tisch werde erst in einer Stunde frei.
    »Und wie lange würde es dauern, ein paar Tacos zum Mitnehmen zu bekommen?«, erkundigte sich Daniel spontan. »Hast du Lust, am Strand zu essen, Ruth?«
    Sie erstarrte. Es war kurz vor Sonnenuntergang. Sie sah sich im Wagen und dann am Strand, allein mit Daniel. Sie wich einen Schritt zurück und wartete auf die Angst.
    Die Angst kam. Aber plötzlich hielt Ruth es in ihrem Gefängnis nicht mehr aus.
    Und so stiegen sie wieder ins Auto und fuhren bis zu einer Düne, von der aus sie auf den Ozean hinausblicken

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