Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
respektiere. Die Wände hier sind so dünn wie die Haut am Schwanz. Ich habe das mit der Wohnung gehört.«
    Christmas blickte zu Boden. »Tut mir leid, Sal.«
    Er lachte und gab Christmas einen Klaps auf die Wange. »Heb nicht ab«, sagte er wohlwollend. »Du bist und bleibst ein Hosenscheißer, vergiss das nie.«
    Christmas sah ihn an. »Darf ich dich drücken?«
    »Wag es und ich hau dir eins auf die Nase.«
    »Okay.«
    »Okay, was?«
    »Hau mich.« Christmas schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich.

60
    Los Angeles, 1928
    Das Reihenhaus war genau so, wie sich Ruth solche Häuser immer vorgestellt hatte. Sauber und unordentlich zugleich. Reinlich duftend, aber auch auf natürliche Weise wohlriechend. Nicht steril, nicht künstlich. Bewohnt.
    Es war das Haus, in dem eine Familie lebte.
    Mrs. Slater, Daniels und Ronnies Mutter, war eine große blonde Frau Ende vierzig, schlank und braun gebrannt. Ihr Haar mit den von Sonne und Meerwasser ausgebleichten Spitzen trug sie schlicht im Nacken zusammengebunden. Sie hatte lange, kräftige Finger. Daniel war ihr Ebenbild. Die gleiche gerade Nase, die gleichen vollen roten Lippen, die gleichen klaren, lebhaften Augen, das gleiche feine, glatte Haar. Mrs. Slater machte den Eindruck einer zufriedenen, ausgeglichenen Frau, die das Leben liebte, für das, was es war und was es bot. Sie ging gern segeln. Auf einem kleinen Boot, das sie selbst steuerte, schipperte sie sonntags mit ihrem Mann und den Söhnen aufs Meer hinaus. Außerdem hatte Ruth inzwischen herausgefunden, dass Apfelkuchen ihre einzige Spezialität war.
    An dem Tag vor einer Woche, an dem Ruth Daniel und Ronnie kennengelernt hatte, hatte Mrs. Slater sie freundlich und ungezwungen aufgenommen. Verschwitzt und noch voller Mehl, empfing sie sie in der Küche. Sie reichte ihr die Hand, die in einem großen Ofenhandschuh steckte. Da fing sie an zu lachen, streifte ihn ab und reichte Ruth abermals die Hand. Danach vergaß sie, ihn wieder überzuziehen, und verbrannte sich prompt an der Apfelkuchenform. Und sie lachte wieder, zusammen mit Ronnie, der ihr sofort die Wunde an seinem Knie zeigte. Da hob Mrs. Slater ihren kleinen Sohn hoch und setzte ihn auf den Küchentisch. Sie beugte sich über die Wunde und küsste sie.
    »Bäh, wie eklig!«, sagte Ronnie und verzog das drollige Gesicht.
    »An meinem Kind gibt es nichts, was mich ekelt«, gab Mrs. Slater zurück.
    Daniel hingegen ließ Ruth nicht eine Sekunde aus den Augen. Er bot ihr einen Küchenhocker an, während er sich selbst an die Hintertür lehnte und Ruth schweigend betrachtete.
    »Steck dir doch ein Stück Kuchen in den Mund«, sagte seine Mutter zu ihm, »dann wirkt dein Schweigen natürlicher.«
    Daniel errötete ein wenig. Er nahm sich ein Stück Kuchen und biss hinein.
    Ruth sah, dass Mrs. Slater ihm einen liebevollen Blick zuwarf. Dann wandte die Frau sich ihr zu. »Manchmal bin ich ein bisschen giftig zu Daniel. Du weißt schon, wie eine alte Glucke ... Ich kann mich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, dass er schon so groß ist. Und mich womöglich verlassen wird ...«
    »Mama, bitte ...«, warf Daniel verlegen ein.
    »Ja, ich will ihn leiden sehen«, sagte Mrs. Slater mit einem Lächeln auf den schönen roten Lippen, »so wie auch ich leide.«
    »Verfluchter Bastard, du kriegst es mit mir zu tun«, tönte Ronnie und baute sich wie ein Boxer vor seinem Bruder auf.
    Daniel und Ruth lachten und sahen sich in die Augen. Da wurde Daniel ernst.
    Mrs. Slater bot Ruth ein Stück vom Apfelkuchen an, der mit karamellisiertem dunklem Zucker bestreut war. »Ich weiß nicht, ob das Kino eine so gute Erfindung ist«, erklärte sie. »Daniel hat als Kind nicht so geredet, aber Ronnies Ausdrucksweise ist eine Katastrophe. Vielleicht sollte ich ihn nicht ins Kino mitnehmen, doch ... ich finde es so schön, wenn wir alle zusammen hingehen.« Sie lachte.
    Alle zusammen, wiederholte Ruth im Stillen und ließ den Blick von Daniel zu Ronnie und schließlich zu Mrs. Slater schweifen. Keiner von ihnen war allein.
    »Musst du nach Hause zu deinen Eltern, oder dürfen wir dich zum Abendessen einladen, Ruth?«, fragte Mrs. Slater in diesem Moment.
    »Ich muss niemandem Bescheid sagen. Ich bin allein.«
    Ruth bemerkte Mrs. Slaters mitleidigen Gesichtsausdruck. »Meine Eltern leben in Oakland«, setzte Ruth da hinzu und redete schnell, wie um Daniels Mutter abzulenken, wie um den Makel zu überspielen, den die Frau an ihr entdeckt hatte. »Ich bin

Weitere Kostenlose Bücher