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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Angeles, 1928
    Als Arty Short ihn durch Zufall einen Monat nach seinem Verschwinden fand, erkannte er ihn kaum wieder.
    Arty wartete im Auto vor einer roten Ampel. Abwesend blickte er auf eine kleine Menschentraube aus Stadtstreichern und Schaulustigen. Einer der Bettler, ein hagerer alter Mann mit einem vom Leben ausgezehrten Gesicht und tief in den Höhlen liegenden Augen, stand auf einer Kiste und predigte wirres Zeug über das Ende der Welt, über die Apokalypse, über Sodom und Gomorrha, wobei er Nazareth und Hollywood, die ägyptischen Plagen und den Sunset Boulevard in einen Topf warf, Filmtitel wie Bibelverse zitierte und Douglas Fairbanks jr. mit Moses und die Zehn-Gebote-Tafeln mit den Titelseiten der Skandalblätter verwechselte. Und rings um den selbst ernannten Propheten hatten sich Bettler und einfache Leute versammelt, die verzweifelt genug waren, ihm zuzuhören und jedes Mal im Chor »Amen!« zu rufen, wenn der Alte die Arme zum Himmel reckte und göttliche Blitze, Hagelstürme und Heuschreckenplagen erflehte.
    Arty lächelte. Obwohl es für ihn eigentlich nichts zu lächeln gab, hatte er doch mit dem Punisher sein Huhn, das goldene Eier legte, verloren. Von seinen Kunden, die ungeduldig nach einer neuen Heldentat von Hollywoods meistgeliebtem Vergewaltiger fragten, unter Druck gesetzt, hatte sich Arty vor Kurzem erst mit dem Gedanken abgefunden, seinen Partner verloren zu haben, und einige Probeaufnahmen gemacht. Doch gab es keinen Verbrecher, der imstande war, eine ebensolche ungezähmte Wut zum Ausdruck zu bringen wie der Punisher. Vor der Kamera wurde selbst der brutalste Schurke unbeholfen, verlegen. Unecht. Alle, die Arty gecastet hatte, mochten bei Nacht, in einer finsteren Straße, im wahren Leben, Furcht erregend sein. Im Scheinwerferlicht jedoch wurden sie zu Witzfiguren, zu Dilettanten. Nicht einer von ihnen hatte Cochranns Talent, nicht einer von ihnen dessen Ausstrahlung. Nein, es gab nur einen Punisher. Und den hatte er verloren.
    Arty sah den Alten von der Kiste steigen. Die Ampel sprang auf Grün. Hinter ihm hupte ein Auto. Arty drehte den Kopf und legte den Gang ein. Doch in dem Moment, als er den Blick abwandte, lief ihm plötzlich ein Schauer der Erregung über den Rücken. Er blickte noch einmal zurück zu der Gruppe Stadtstreicher. Der Wagen hinter ihm hupte erneut. »Leck mich!«, brüllte Arty, fuhr rechts ran und schaute abermals hinüber zu den Bettlern. Ein ihm bekannt vorkommender junger Mann mit einem dünnen, zerzausten Bart und wirren, ungewaschenen Haaren schnappte sich die Kiste, die dem Alten als Bühne gedient hatte, und streckte den Passanten einen schäbigen, zerlöcherten Hut entgegen. Ab und an warf jemand ein paar Münzen hinein. Der Alte kramte in dem Hut und gab dann dem jüngeren Mann ein Zeichen, ihm zu folgen. Der trottete ihm apathisch und ergeben nach und schleifte dabei die Kiste geräuschvoll über den Gehweg hinter sich her. Zu dem Jungen und dem Propheten gesellten sich drei weitere Stadtstreicher. Die Schaulustigen zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen.
    Artys Herz klopfte wild vor Aufregung, als er aus dem Auto stieg. Er ließ die Straßenbahn passieren, rannte auf die andere Straßenseite, lief der Gruppe nach und überholte sie schließlich. Dann blieb er stehen und betrachtete den jungen Mann, der die Kiste hinter sich her zog, genauer. Er war bis auf die Knochen abgemagert, trug Lumpen und zerschlissene Schuhe ohne Schnürsenkel und ohne Socken.
    »Cochrann!«, rief der Regisseur.
    Der junge Mann riss die Augen auf, bevor er zu Boden blickte und mit hochgezogenen Schultern, die Kiste im Schlepptau, an ihm vorbeiging.
    »Cochrann, Cochrann ...« Arty holte ihn ein und versuchte, ihn am Arm festzuhalten. »Cochrann, ich bin es, Arty, Arty Short, kennst du mich denn nicht mehr?«
    Der junge Bettler jedoch zog den Kopf noch weiter ein und schleifte seine Kiste wie ein Maultier hinter sich her.
    »Was willst du von meinem Jünger?«, fragte da der Alte und hob bedeutungsschwer und feierlich wie ein Priester eine Hand zum Himmel.
    »Verpiss dich, du Pfeife«, gab Arty zurück. »Du hast ja keine Ahnung, wer dieser Mann ist. Das ist Cochrann Fennore, der Punisher«, fuhr er fort, ohne den Jungen, der stehen geblieben war, aus den Augen zu lassen. »Er ist der Beste von allen. Er ist ein Star«, schloss er ebenso salbungsvoll wie der Prophet.
    In dem Moment blickte Bill zu ihm auf. Wortlos sah er ihn an. Dabei kniff er mit zur Seite geneigtem Kopf

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