Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
Neuem.
    Christmas wich einen Schritt zurück. »Ich bin es doch, Christmas«, wiederholte er dabei. »Ich bin es, Christmas ...«
    Ruth aber warf den Kopf hin und her und hörte nicht auf zu zittern. Der Stift, der ihren Kiefer fixierte, hinderte sie am Sprechen. »Ei ... ei ... ei ...«, stieß sie immer wieder hervor. Nein, nein, nein ... Und während sie sich hin und her wälzte, zog sie die Hand mit dem Verband, der sich dort, wo der Ringfinger fehlte, mehr und mehr rötete, unter der Bettdecke hervor und legte sie auf ihre Augen. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter und versickerten in Verbänden.
    Christmas war wie versteinert. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
    »Opa Saul ist jetzt da«, meldete sich der Alte zu Wort, nahm Ruths Hand und küsste sie. Danach umarmte er seine Enkelin zärtlich. »Ruth, ich bin bei dir, hab keine Angst, hab keine Angst. Beruhige dich, mein Schatz, beruhige dich ...« Dann wandte er sich nach Christmas um. »Verlasse sofort den Raum, Junge!«, befahl er ihm. »Doktor Goldsmith, Doktor Goldsmith!«
    Der Arzt kam ins Zimmer. Die Krankenschwester hatte bereits eine Spritze aufgezogen. Ephreim Goldsmith nahm sie ihr aus der Hand, ging zu Ruth und spritzte ihr das Medikament in den Arm.
    Christmas zog sich langsam zurück. Er fühlte sich abgewiesen von den smaragdfarbenen Augen des Mädchens, das ihm gehörte wie ein Schatz, den er gefunden hatte. An der Tür begegnete er Philip Isaacsons leerem Blick. Christmas wandte sich ab und ging langsam den Flur hinunter, der ihn endgültig von dem Mädchen wegführen würde, das er geglaubt hatte, lieben zu können.
    »Bleib stehen, Junge.«
    Beim Klang der befehlsgewohnten Stimme drehte Christmas sich um.
    Ungeachtet seines Alters holte Saul Isaacson ihn mit energischen Schritten ein. »Wie ist dein Name?«, wollte er wissen und reckte dabei das Kinn vor.
    »Christmas.«
    »Was soll denn das sein, ein Vor- oder Nachname?«, fragte der Alte in seiner gewohnt barschen, direkten Art.
    Was für einen stechenden Blick er hat, dachte Christmas. Und eine immense Stärke. Eine Energie, der das Alter nichts anhaben kann. All das, was sein Sohn niemals haben wird. »Ein Vorname«, antwortete Christmas.
    Schweigend sah der Alte ihn an. Als schätzte er sein Gewicht ab. Doch Christmas wusste, dass er längst eine gewisse Billigung in den Augen des alten Isaacson gefunden hatte, andernfalls hätte er niemals einen Fuß in Ruths Zimmer setzen dürfen.
    »Christmas Luminita«, fügte er hinzu.
    Saul Isaacson nickte. »Hat mein Sohn dir angemessen gedankt?«
    »Ja.« Christmas zog den zusammengerollten Geldschein aus der Tasche und zeigte ihn dem Alten.
    »Zehn Dollar. Schmuck! «, brummte Saul. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und brachte eine Geldbörse aus Krokodilleder zum Vorschein, der er einen Fünfzig-Dollar-Schein entnahm. »Verzeih ihm«, sagte er und wies mit dem Kopf zu seinem Sohn hinüber.
    »Ich hab’s nicht für Geld getan«, entgegnete Christmas, ohne den Schein anzunehmen.
    »Das weiß ich«, sagte der Alte, der ihn noch immer so intensiv musterte, als wollte er in sein Innerstes schauen. »Aber Leute wie wir wissen sich nicht anders zu bedanken. Nimm es an.« Entschlossen, beinahe grob steckte er Christmas den Fünfziger in die Tasche. »Geld ist alles, was wir haben.«
    Stumm erwiderte Christmas den Blick des alten Mannes.
    »Fred«, sagte Saul zu seinem Chauffeur, der auf dem Flur gewartet hatte, »bring Signor Luminita nach Hause.« Dann sah er wieder Christmas an. »Nimm auch das an, Junge. Du warst ein echter Gentleman.«
    Als der Rolls-Royce Silver Ghost in der Monroe Street vorfuhr, war Christmas tief in Gedanken versunken. Ruths Reaktion hatte ihn mindestens ebenso verwirrt wie das Mädchen selbst. Er war davon ausgegangen, dass Ruth ihn anlächeln würde, wie sie es versucht hatte, als er sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Er hatte gedacht, sie würden dort zusammenbleiben und die Welt ringsum vergessen. Er hatte geglaubt, dass sie nicht eine Sekunde ihre tiefgründigen grünen Augen von ihm abwenden würde. Dass dieser nicht enden wollende Blick all das sagen würde, was zwei jungen Menschen nicht über die Lippen kam. Und dass sie mit diesem Blick den Ozean überwinden würden, der ein reiches Mädchen wie sie von einem Hungerleider wie ihm trennte. Darüber hatte Christmas während der gesamten Fahrt vom Krankenhaus bis nach Hause nachgedacht. In den weichen Ledersitz des Wagens geschmiegt, in dem es

Weitere Kostenlose Bücher