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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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angelehnte Tür zu.
    »Wo willst du hin, Junge?«, hielt ihn der Pfleger sofort auf.
    Christmas drehte sich zu Isaacson um. Der Mann sah ihn an ohne eine Spur des Wiederkennens in den Augen.
    »Ich bin Christmas, Sir ...«
    »Wo ist sie? Wo ist meine Enkelin?«, dröhnte da eine gebieterische Stimme zu ihnen herüber.
    Christmas entdeckte einen alten Mann, der sich mit wütend erhobenem Spazierstock über den Gang näherte, gefolgt von zwei Krankenschwestern und einem Mann in der Uniform eines Chauffeurs.
    »Vater«, sagte Isaacson, »was machst du denn hier?«
    »Was ich hier mache? Ich bin gekommen, um mich um meine Enkelin zu kümmern, Schwachkopf! Wieso habe ich nicht gleich davon erfahren?«, polterte der Alte.
    »Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst ...«
    »Blödsinn! Wo ist sie?« Da bemerkte der Alte den Arzt. »Ah, Doktor Goldsmith. Erstatten Sie mir sofort Bericht«, befahl er und richtete den Stock auf die Brust des Mediziners.
    »Ruth hat drei gebrochene Rippen, innere Blutungen, einen abgetrennten Ringfinger, zwei ausgeschlagene Zähne, einen ausgerenkten Kiefer und eine gebrochene Nasenscheidewand«, zählte der Arzt auf. »Darüber hinaus zahlreiche Prellungen. Die Augen dürften keinen Schaden davongetragen haben, aber möglicherweise ihr linkes Trommelfell ... Und sie wurde ... sie wurde ...«
    »Verflucht!« Der Alte schlug seinen Holzstock so heftig gegen die Wand, dass er splitterte. »Sollte sie schwanger sein, müssen wir den Bastard sofort loswerden!«
    »Vater, beruhige dich ...«, warf Philip Isaacson ein.
    Der alte Mann warf ihm einen zornigen Blick zu. »Wo ist sie?«, fragte er schließlich. »Da drin?«
    Sein Sohn nickte.
    »Geh aus dem Weg, Kleiner«, sagte der alte Isaacson zu Christmas und versuchte, ihn mit der Stockspitze zur Seite zu schieben.
    Doch Christmas griff entschlossen nach dem Stock und hielt furchtlos den Blick auf den Alten gerichtet.
    Sogleich war der Pfleger hinter ihm und versuchte, ihn festzuhalten.
    »Ich will sie sehen!«, schrie Christmas und entwand sich dem Mann.
    »Lass ihn los!«, befahl der Alte dem Pfleger. Dann senkte er den Stock und trat auf Christmas zu. »Wer bist du?«
    »Ich habe Ruth gefunden«, sagte Christmas. Und wieder überkam ihn dieses Gefühl von Zugehörigkeit und Besitz. Als beanspruchte er einen Schatz für sich, den er entdeckt hatte, und zugleich das Joch, das damit verbunden war. »Ich war es, der sie hergebracht hat.« Herausfordernd sah er den Alten an.
    »Und was willst du?«
    »Ich will sie sehen.«
    »Warum?«
    »Darum.«
    Saul Isaacson wandte sich seinem Sohn und dann Dr. Goldsmith zu. »Darf er sie sehen?«, fragte er den Arzt.
    »Sie steht unter Beruhigungsmitteln«, antwortete der Arzt.
    »Ja oder nein?«
    »Ja ...«
    Der alte Saul blickte Christmas prüfend an. »Bist du Ire?«
    »Nein.«
    »Jude?«
    »Nein.«
    »Na klar. Wäre auch zu schön gewesen. Was bist du denn?«
    »Amerikaner.«
    Der Alte musterte ihn schweigend. »Was bist du?«, fragte er schließlich noch einmal.
    »Meine Mutter ist Italienerin.«
    »Soso ... Italiener. Wie dem auch sei, du hast mehr getan als irgendein anderer hier, Junge. Gehen wir«, sagte er und schob mit dem Stock die Tür zu Ruths Zimmer auf.
    Eine Krankenschwester, die in einer Ecke des Raumes gesessen und in einer Zeitschrift gelesen hatte, stand auf. Die Vorhänge waren zugezogen. Doch im Halbdunkel konnte Christmas Ruths Gesicht deutlich erkennen. Es sah noch viel erschreckender aus als am Morgen. Obwohl man die Wunden gesäubert und versorgt hatte, war das Gesicht des Mädchens dort, wo es nicht mit Verbänden und Pflastern bedeckt war, von Blutergüssen und Schwellungen völlig entstellt.
    Der Alte blieb, auf den Stock gestützt, stehen und schlug die Hand vor die Augen. Er seufzte tief. »Geh du zu ihr, Junge«, flüsterte er.
    Christmas trat an das Krankenbett. »Ruth, ich bin es, Christmas«, sprach er sie leise an.
    Sie wandte den Kopf. Ihr Kiefer war mit Draht fixiert. Sie schlug die Augen einen Spalt auf – und erstarrte, als sie ihren Besuch erkannte. Wieder dachte Christmas, dass ihre Augen grün waren wie zwei lupenreine Smaragde, aber nur kurz, dann zuckte er, über ihre Reaktion erschreckt, zusammen. Ruth begann, leise zu zittern und den Kopf zu schütteln. Ihre Augen waren, soweit die geschwollenen, inzwischen gänzlich violett verfärbten Lider es zuließen, voller Furcht aufgerissen, als durchlebte sie bei Christmas’ Anblick den schrecklichen Albtraum von

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