Der Junge, der Träume schenkte
Gefängniswärter das Schloss aufschnappen ließ. Hinter dem Captain erkannte Christmas einen elegant gekleideten Mann, der traurig dreinschaute. Er wirkt wie ein gebrochener Mensch, dachte Christmas.
»Das sind sie, Mr. Isaacson ...«, erklärte der Captain sichtlich verlegen. »Bitte verstehen Sie ... nun, man braucht sie ja nur anzuschauen. Meine Männer haben gedacht, die beiden hier wären ...«
Isaacson hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die selbstsichere und unwillkürliche Geste eines Mannes, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Doch wie Christmas bemerkte, war es eine eher erschöpfte als verärgerte Geste. Das Gesicht des Mannes war von einer tiefen Müdigkeit überschattet. Aus glanzlosen Augen sah er die beiden Jungen an.
»Danke«, sagte er nur. Dann reichte er ihnen jeweils einen Geldschein.
»Zehn Dollar!«, rief Santo fassungslos aus.
»Mr. Isaacson ist der Vater des Mädchens, das ihr ...« Der Captain räusperte sich. »Nun ja, er ist der Vater des Mädchens, das ihr gerettet habt.«
»Zehn Dollar!«, rief Santo erneut.
Christmas musterte Ruths Vater schweigend. Und Isaacson musterte ihn.
»Wie geht es ihr?«, fragte Christmas leise, als wäre das etwas, das nur sie beide etwas anging.
»Gut ...«, antwortete Isaacson. »Nein, schlecht.«
»Wir finden ihn, Mr. Isaacson«, versicherte der Captain.
»Ja, natürlich«, sagte der Mann ebenfalls leise, ohne den Blick von Christmas abzuwenden.
»Wie schlecht?«, hakte Christmas nach.
»So schlecht, wie es einem dreizehnjährigen Mädchen geht, das vergewaltigt und blutig geprügelt wurde und dem man einen Finger abgeschnitten hat«, antwortete Isaacson. Und für einen kurzen Moment verwandelte sich die Müdigkeit, die seinen Blick so erloschen wirken ließ, in eine Art Erstaunen, als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, was seiner Tochter widerfahren war. Beinahe erschrocken drehte er sich um. »Ich muss gehen«, sagte er hastig und steuerte auf den Ausgang zu.
»Warten Sie!«, rief Christmas ihm nach. »Darf ich sie sehen?«
Mit neuerlicher Überraschung im Blick wandte der Mann sich um. Sein Mund war halb geöffnet, als suchte er nach den richtigen Worten.
»Auf euch beide wartet noch eine Vernehmung«, mischte sich der Captain ein und stellte sich zwischen Christmas und Isaacson, als müsste er den Mann vor der Belästigung durch einen Straßenjungen schützen. »Ihr müsst uns alles erzählen. Wir müssen den Dreckskerl finden, der die junge Dame so zugerichtet hat.« Aus dem Augenwinkel warf er Isaacson einen komplizenhaften, unterwürfigen Blick zu.
»Ja ...«, sagte Ruths Vater leise, zögerlich.
»Ich darf Ihre Tochter sehen?«, vergewisserte sich Christmas.
»Ja ...«, antwortete Isaacson matt. Mit abwesendem Blick sah er Christmas schweigend an. Schließlich begab er sich langsam und mit schweren Schritten zum Ausgang. »Komm mit.«
»Und ich?«, meldete sich Santo zu Wort, der nicht eine Sekunde den Zehn-Dollar-Schein in seiner Hand aus den Augen gelassen hatte.
»Erzähl du ihm alles«, sagte Christmas und deutete mit dem Kinn auf den Captain. Dann näherte er sich Santos Ohr. »Und kein Wort von den Diamond Dogs«, wisperte er.
Als er den Blick hob, bemerkte er, dass Joey, der Taschendieb, am Gitter stand und ihn beobachtete. Die Schatten um seine Augen kamen Christmas noch tiefer vor. Und der freche, zynische Ausdruck in seinen Augen war verschwunden. Joey schien nun einfach ein Junge wie Santo und er selbst zu sein. Ein kränklicher Junge, der genau wie sie in seiner Kindheit mehr schlecht als recht zu essen bekommen und in Räumen gelebt hatte, in denen es im Winter eisig kalt und im Sommer drückend heiß war. Christmas nickte ihm zu, und Joey deutete im Gegenzug ein freudloses Lächeln an.
Christmas holte Isaacson auf den Gängen des Polizeireviers ein und folgte ihm nach draußen. Am Straßenrand vor dem Kommissariat wartete ein luxuriöser Hispano-Suiza H6B samt Chauffeur in Uniform auf sie. Der Chauffeur hielt die Tür auf und warf einen kurzen, missbilligenden Blick auf Christmas, auf seine ungewaschenen Kleider, die schlammverkrusteten Schuhe. Dann schloss er zuvorkommend die Tür, setzte sich auf den Fahrersitz und ließ den Motor an.
»Zum Krankenhaus, Sir?«, fragte er.
Isaacson nickte kaum merklich. Der Chauffeur sah ihn im Rückspiegel an. Er legte den Gang ein, und die große kanariengelbe Limousine mit den schwarzen Kotflügeln und dem grauen Dach rollte über die staubigen Straßen
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