Der Junge, der Träume schenkte
der East Side.
»Du bist Christmas?«, fragte Isaacson, den Blick starr vor sich ins Leere gerichtet.
»Ja, Sir«, antwortete Christmas, und sein Herz machte einen Satz.
Isaacson wandte den Kopf zu ihm und blickte ihn schweigend an. Es ist, als sähe er mich gar nicht, dachte Christmas. Dann richtete der elegante Mann den Blick wieder geradeaus und schwieg weiter, verloren in der eigenen Verlorenheit. Christmas spielte mit dem Zehn-Dollar-Schein, den er bis dahin nicht einmal angesehen hatte, und stellte fest, dass der Mann ihm ungeachtet all seines Schmerzes nicht gefallen wollte.
Zwanzig Dollar, dachte er. Sein Schmerz ist zwanzig Dollar wert.
Wenige Minuten später fuhr die große Limousine, nach der sich alle auf der Straße umdrehten, vor dem Krankenhaus vor. Der Chauffeur beeilte sich, Isaacson die Wagentür zu öffnen, und während Christmas hinter ihm herging, spürte er die Blicke der beiden Polizisten am Eingang auf sich gerichtet.
In der Empfangshalle wimmelte es von armen Leuten. Kaum hatte die Empfangsschwester Isaacson erkannt, gab sie einem Pfleger ein Zeichen, der gleich darauf herbeigeeilt kam.
»Doktor Goldsmith ist jetzt da. Er ist bei der jungen Dame im Zimmer«, sagte er und verbeugte sich. »Ich bringe Sie hin.«
Sie liefen durch eine Reihe überfüllter Flure, auf denen geklagt, geraucht oder Karten gespielt wurde. Der Krankenpfleger ging ruppig mit allen um, die im Weg standen. So herablassend, wie sich vielleicht seiner Vorstellung nach ein Diener des Herrn Isaacson Geringeren gegenüber zu verhalten hatte. Christmas beobachtete, wie Kinder, die gerade noch gespielt und fröhlich gekreischt hatten, verstummten, als sie an ihnen vorbeigingen. Und wie Männer und Frauen instinktiv den Blick senkten oder sich verbeugten. Dann beobachtete er Isaacson. Wie ein Geist schritt er an ihnen vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Vielleicht liegt es an seinem Schmerz und seiner Sorge, dachte Christmas, vielleicht nimmt er aber auch grundsätzlich niemanden wahr, der keine gesellschaftliche Bedeutung hat.
Doch das war in dem Moment nicht wichtig. Christmas war von einem seltsamen Gefühl erfasst, das Atmen fiel ihm schwer, ihm war schwindlig, als hätte er getrunken, und seine Beine zitterten. Die Knie waren ihm weich geworden. Er dachte an die grünen Augen, die er durch all das Blut hindurch erahnt hatte. Ruths Augen, die ihn anblickten und ihm zulächelten. Und er hatte ein flaues Gefühl im Magen, wie er es noch nie zuvor empfunden hatte. Auch erinnerte er sich, als hätte er Ruth eben erst abgesetzt, noch gut an den Schmerz in seinen Armen, auf denen er sie getragen hatte. Dennoch hatte er nicht gewollt, dass Santo ihn ablöste und sie berührte. Denn es war, als gehörte Ruth ihm, Christmas. Oder als gehörte er Ruth. Als wäre er nur geboren worden, um sie an dem Morgen zu retten. Bei diesem Gedanken raste sein junges Herz vor Aufregung, und sein Atem ging keuchend.
»Doktor Goldsmith«, rief der Pfleger einen Mann herbei, der nicht minder elegant aussah als Isaacson.
»Philip«, sagte der Arzt und umarmte Isaacson.
»Hast du sie gesehen?«, fragte Isaacson voll Sorge. »Wie ist sie behandelt worden?«
»Gut, gut, sei unbesorgt«, versicherte Dr. Goldsmith beruhigend.
Isaacson ließ den Blick schweifen, als sähe er das Krankenhaus und die Menschen hier zum ersten Mal. »Ephreim ...«, sagte er und breitete in einer alles ringsum umfassenden Geste den Arm aus. »Mein Gott, wir müssen sie schleunigst von hier fortbringen.«
»Ich habe bereits alles in die Wege geleitet«, erwiderte der Arzt. »Ruth kommt zu mir in die Klinik ...«
»Nicht nach Hause?«
»Nein, Philip, das ist vorerst nicht vernünftig. Ich möchte sie lieber unter Beobachtung haben.«
»Was ist mit Sarah, ist sie hier?« Wieder ließ Isaacson den Blick umherschweifen. Nun aber lag Hoffnung darin.
»Sie hat gesagt, ihr sei nicht danach ...«
Kopfschüttelnd sah Isaacson zu Boden. Der Hoffnungsschimmer in seinen Augen war wieder erloschen.
»Du musst sie verstehen, Philip ...« Wie zuvor Isaacson breitete Dr. Goldsmith den Arm aus, um das trostlose Krankenhaus und die ärmlichen Menschen darin zu beschreiben.
Christmas stand etwas abseits und lauschte dem Gespräch. Gleich zweimal hatte er sich in die Geste einbezogen gefühlt, die unmissverständlich gewisse Leute von anderen abgrenzte. Und plötzlich schämte er sich seiner geflickten Hose und seiner zu großen Schuhe. Dennoch aber trat er einen Schritt auf die
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