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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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dezent nach Zigarre und Brandy roch, hatte er mit der Wachsamkeit eines Erwachsenen in sich hineingehorcht. Und alles andere vergessen.
    Selbst als der Silver Ghost in der Monroe Street vor dem Haus Nummer 320 anhielt, blieb Christmas in seinen ärmlichen, abgetragenen Kleidern und den mit Matsch und Pferdekot verkrusteten Schuhen regungslos sitzen und dachte an Ruth und ihre grünen Augen.
    In der kurzen Zeit, in der Fred den Motor abstellte, aus dem Wagen stieg und ihm mit ehrerbietiger Professionalität die Tür öffnete, hatte sich eine neugierige Menschentraube um die Luxuslimousine versammelt. Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer versuchten, einen Blick in das Wageninnere zu erhaschen, das im Halbdunkel lag. Dicht gedrängt tuschelten sie miteinander und rätselten, wer wohl der mysteriöse Besucher im East-Side-Ghetto war. Und da niemand ausstieg, obgleich der Chauffeur kerzengerade dastand und die Tür aufhielt, gewann der Unbekannte in der Vorstellung aller von Sekunde zu Sekunde mehr an Rang und Bedeutung.
    »Wir sind da, Mr. Luminita«, sagte der Chauffeur schließlich.
    Christmas schreckte aus seinen Gedanken hoch, und als er einen Fuß auf die Straße setzte, sah er sich mindestens zwanzig vor Überraschung weit aufgerissenen Mündern gegenüber. Von jetzt auf gleich war Ruth vergessen. Betont lässig stieg er aus dem Wagen, ließ träge und gelangweilt seinen Blick schweifen – den einen Fuß noch immer auf dem Trittbrett, als wollte er, dass sich das Bild den Zuschauern ins Gedächtnis brannte – und griff schließlich in seine Tasche. So auffällig, dass jeder ihn sehen konnte, holte er den Zehn-Dollar-Schein hervor, faltete ihn zusammen und steckte ihn dem Chauffeur weltgewandt in die Brusttasche seiner Uniform.
    »Danke, Fred, du kannst jetzt fahren«, sagte er. Als er die Hand aus der Tasche der Uniform zog, lag der Geldschein noch darin, doch das merkte außer dem Chauffeur niemand.
    »Ich danke Ihnen, Mr. Luminita«, entgegnete Fred und deutete eine Verbeugung an. »Sehr großzügig«, bemerkte er mit komplizenhaftem Lächeln. Daraufhin setzte sich der Chauffeur wieder auf den Fahrersitz, ließ den Motor an und fuhr mit dem Rolls-Royce davon.
    Noch immer stand die neugierige Menge rings um Christmas wie betäubt da. Stumm starrten alle auf den zerlumpten Jungen, an den die meisten sich noch erinnerten, wie er als Knirps als Zeitungsschreier durch die Straßen gelaufen oder mit teerverklebten Schuhen nach Hause gekommen war wie viele andere Tagelöhner, die Bitumen auf schadhaften Dächern verteilten. Als Christmas den ersten Schritt auf die schäbige Tür des Hauses zuging, in dem er mit seiner Mutter lebte, bildeten die Menschen wie von selbst ein Spalier. Ganz hinten in der Menge entdeckte Christmas Santo, der gerade vom Polizeirevier zurückkam und selig grinste. Santo machte Anstalten, seinen Zehn-Dollar-Schein hervorzuholen.
    »Ah, Santo, da bist du ja«, rief Christmas schnell, um ihn davon abzuhalten. Er nutzte die Stille, damit ihn auch jeder hörte. »Du weißt schon, wer ...«, sagte er betont geheimnisvoll, »war sehr zufrieden. Er hat gleich noch einen Auftrag für uns Diamond Dogs.« Die neuerliche Kunstpause verlieh dem Namen seiner Gang besonderes Gewicht. »Komm mit rauf, dann erklär ich dir alles.« Damit nahm er Santo beim Arm und zog ihn zum Eingang.
    An der Haustür hielt Christmas noch einmal inne, als wäre ihm etwas eingefallen. Abermals griff er in seine Tasche, nahm den Fünfzig-Dollar-Schein heraus und hielt ihn für alle gut sichtbar hoch. Dann gab er ihn Santo und sagte: »Hier, nimm, das ist dein Anteil.«
    Durch die neugierige Menge auf dem Gehsteig ging ein ungläubiges Raunen.
    Christmas wandte sich den Leuten zu. »Was ist denn? Immer müsst ihr eure Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken. Lass uns gehen!«, forderte er Santo auf, der ihn mit ebenso großen Augen ansah wie die anderen. »Hier kann man nicht in Ruhe übers Geschäft reden.« Gefolgt von dem, den bald alle für seinen Stellvertreter halten sollten, verschwand Christmas im stinkenden Hauseingang.
    »Fünfzig Dollar!«, rief Santo verblüfft, während sie die Treppe hinaufstiegen. »Und um was für einen Auftrag geht es?«
    »Idiot«, sagte Christmas, nahm ihm den Geldschein aus der Hand und steckte ihn zurück in seine Tasche.

13
    Brooklyn Heights – Manhattan, 1922
    Bill war in jener Nacht nicht nach Hause zurückgekehrt. Er hatte einen Kasten Bier und eine Flasche des besten zwölf

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