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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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schließen.
    Bill jedoch streckte ihr die Flasche Blue Ruin entgegen und hielt sie so auf Abstand.
    Die Frau schlug die Hand vor den Mund. In den großen schwarzen Augen standen Sorge und Verzweiflung. Die Sorge war ein neues Gefühl, das erst an diesem Tag geboren worden war. Die Verzweiflung war seit Jahren ihr ständiger Begleiter. Bill konnte sich nicht erinnern, jemals einen anderen Ausdruck in ihren Augen gesehen zu haben.
    »Die Polizei war hier«, sagte die Frau leise. Da entdeckte sie den Ring am kleinen Finger ihres Sohnes. »Bill, Bill ... was hast du angestellt?«
    »Du dämliches Judenweib«, polterte der Vater los und erhob sich schwankend aus dem Sessel. »Hier siehst du, was er angestellt hat!« Er schleuderte ihr das Geld ins Gesicht. »Nur Scheiße hast du im Kopf, wie alle Juden!«
    »Schluss damit, Pa«, sagte Bill. »Schluss damit«, wiederholte er und nahm noch einen Schluck.
    Der Vater musterte ihn. Er war größer als Bill. Und stärker. Ein Leben lang hatte er ihn gezüchtigt. Mit bloßen Händen, Fußtritten oder mit dem Gürtel. »Du bist genauso ein Scheißjude, Bill«, sagte er. »Ist dir klar, dass du als Sohn einer jüdischen Nutte selbst ein Jude bist?« Als er grinste, trat ein finsteres Leuchten in seine Augen.
    »Ja, du hast es mir millionenfach gesagt, Pa.« Bill nahm noch einen Schluck. »Und ich kann nicht mehr drüber lachen.«
    »Hört auf ... ich bitte euch«, warf die Mutter ein.
    Der Vater wandte sich ihr zu. Er holte aus und schlug ihr mit voller Wucht ins Gesicht. »Judenschlampe, immer musst du dich einmischen.«
    Wortlos drehte Bill sich um und ging in die Küche.
    »Komm her, du Stück Scheiße. Gib mir meine Flasche zurück. Dein Geld schieb ich dir in den Arsch. Du wirst am Galgen enden, und dann feiere ich ein Fest. Aber vorher will ich noch ein paar Spuren auf deinem Judenrücken hinterlassen.« Langsam schnallte der Vater den Gürtel auf, zog ihn ab und wickelte ihn um seine Faust. Und während er in dem Versuch, sich auf den Beinen zu halten, nach rechts und links taumelte, rutschte ihm die Hose herunter. Doch das schien er nicht zu bemerken.
    »Du tust mir leid«, sagte Bill, als er zurück ins Zimmer kam. Nach einem letzten Schluck warf er die Branntweinflasche auf den Boden und rammte seinem Vater das Messer, mit dem der auf dem Markt die Fische ausnahm, in den Bauch.
    Als sich die Mutter zwischen Vater und Sohn werfen wollte, stach Bill ein zweites Mal zu. Die Frau spürte, wie die Klinge ihr die Rippen zersplitterte und mit einem schmatzenden Geräusch in ihren Brustkorb eindrang. Sie riss die Augen auf und brach dann zusammen. Da hob Bill abermals das Messer in die Höhe und stach zu. Sein Vater streckte die Hände aus, um sich zu schützen. Die Klinge zerfetzte ihm die Handfläche.
    »Hab ich dir je gesagt, wie widerlich ich deine Fischhände finde, Pa?«, fragte Bill lachend und versetzte ihm einen weiteren Stich in den Bauch.
    Der Vater sackte zu Boden, auf seine Frau.
    Bill holte aus und stach wieder und wieder zu, ohne darauf zu achten, ob er seine Mutter, die Jüdin, oder seinen Vater, den deutschen Fischverkäufer, traf. Und als er das Messer ein letztes Mal versenkte, sagte er zu seinem eigenen Erstaunen laut: »Siebenundzwanzig.« Siebenundzwanzig Messerstiche. Er hatte mitgezählt.
    Er ließ die Waffe auf die verrenkten, blutüberströmten Körper fallen und suchte in der Speisekammer nach etwas Essbarem und einer Flasche Blue Ruin. Er sammelte seine vierzehn Dollar und zwanzig Cent wieder ein, warf einen Blick in die Pappschachtel, in der, wie er wusste, seine Mutter das Geld aufbewahrte, und zählte drei Dollar fünfundvierzig. Danach durchsuchte er die Taschen seines Vaters und fand einen Dollar fünfundzwanzig. Er setzte sich in den grünen Sessel und zählte, wie viel er beisammenhatte. Achtzehn Dollar neunzig.
    Da betrachtete er den Ring an seinem Finger. Er streifte ihn ab. Mit der Spitze des blutigen Messers löste er nach und nach sämtliche Edelsteine heraus, füllte sie in ein Tütchen aus Zeitungspapier und steckte es ein. Aus der Tasche des toten Vaters ragte ein Taschentuch. Er zog es heraus und wischte damit das Blut von der Ringfassung ab.
    Schließlich kletterte er aus dem Fenster, durch das er zuvor in die Wohnung gestiegen war, und ging den ganzen Weg in die entgegengesetzte Richtung zurück, wie als kleiner Junge, wenn er Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte, weil er nicht sicher hatte sein können, aus welcher Richtung sich

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