Der Junge, der Träume schenkte
begann.
»Miss Ruth Isaacson«, sagte er und legte dabei so viel Zärtlichkeit in seine Stimme, dass jedermann geschworen hätte, es handele sich um wahre Liebe.
»Soll ich nicht auch die Anschrift schreiben?«, fragte die Verkäuferin.
»Nein«, erwiderte Bill. »Ich überreiche ihn ihr persönlich.« Er bezahlte, und nachdem er seine alten schmutzigen Kleider weggeworfen und sich einen Wollmantel, einen seriösen grauen Anzug und ein blaues Hemd gekauft hatte, ließ er sich, um nicht wie ein Landstreicher auszusehen, beim Friseur Haare und Bart ein wenig stutzen. Anschließend setzte er die Fahrt fort.
Kurz vor Manhattan hielt er an, um den Einbruch der Dunkelheit abzuwarten. Zufrieden mit seinem Plan, drehte er den Briefumschlag in seiner Hand. Niemand würde bei einem solchen Umschlag Verdacht schöpfen. Der Briefumschlag wirkte unschuldig, heiter. Der Brief einer Freundin, würden alle denken. Die Einladung zu einem Fest vielleicht. Bill lachte, und nach Monaten hörte er zum ersten Mal wieder den Klang seines kristallklaren Lachens, das so lange verstummt gewesen war. Endlich fühlte er sich wieder lebendig.
Er überlegte hin und her, was er schreiben sollte, und als er jedes Wort festgelegt hatte, begann er wieder zu lachen. Und je mehr er lachte, desto besser gefiel ihm sein Lachen.
In der Nacht erreichte Bill den Battery Park, kletterte auf den Baum, schob die Hand in die Höhle und fingerte das Wachstuch heraus, das er dort versteckt hatte. Vorsichtig schlug er es auf und fand darin das Geld, das er zurückgelassen hatte, und die Juwelen aus dem Ring, den großen Smaragd und die kleinen Diamanten. Zusammengerechnet besaß er nun vierhundertvierundfünfzig Dollar und ein bisschen Kleingeld. Ein Vermögen. Vor allem, wenn man bedachte, dass er die Edelsteine noch nicht verkauft hatte. Bill stopfte alles in seine Taschen und steuerte entschlossen auf die Park Avenue zu.
Als er in die Nähe von Ruths vornehmem Zuhause kam, spürte er, wie seine Erregung wuchs – und mit ihr die Anspannung all der Monate voller Albträume zurückkehrte. Die, so fürchtete er, könnten nun jeden Moment Wirklichkeit werden. In Gedanken sah er, wie Ruth einen Polizisten auf ihn aufmerksam machte, er sah sich weglaufen und von einem Schuss in den Rücken getroffen werden, er sah sich geröstet auf dem elektrischen Stuhl.
»Miese Schlampe!«, zischte er, als er den Umschlag in den Briefkasten steckte. Und mit einem Mal erschien ihm der Brief nichtig, eine bloße Kinderei, und er fand, er sollte der Jüdin auflauern, sie auf ihrem Weg zur Schule abfangen und ihr an Ort und Stelle, inmitten all ihrer reichen Freundinnen, die Kehle durchschneiden, sodass das Blut ihre teure Kleidung ruinierte. »Miese Schlampe!«, fluchte er erneut und wandte sich wieder zum Gehen. Instinktiv machte er sich auf den Weg nach Hause, in seinen alten Bezirk, als könnte der Ort ihn beschützen oder es ihm ermöglichen, wieder der alte Bill zu werden. Als könnte das Elendsviertel, in dem er seinen Vater, den Deutschen, und seine Mutter, die Jüdin, getötet hatte, ihm sein Lachen zurückgeben, das von Neuem verstummt war.
Auf dem Weg – dort, wo die 3rd und die 4th Avenue in die Bowery münden – bemerkte er die Lichter eines zwielichtig und heruntergekommen wirkenden Clubs. Er brauchte etwas zu trinken und eine Nutte und ging hinein.
Sie fiel ihm sofort auf. Sie geleitete die Gäste an die Tische oder zu den Separees. Sie war um die dreißig, vermutlich Italienerin. Freilich hielten sich in dem Lokal nur Italiener auf. Er erkannte sie an ihrer geschmacklosen grellbunten Kleidung, an ihren vorlauten Bemerkungen und ihrem rüpelhaften Auftreten. Italiener und Juden waren für Bill ein und dasselbe: Abschaum. Eine Besonderheit an dieser Frau erregte ihn sofort. Kaum merklich zog sie das linke Bein nach. Als sie nach der Verabschiedung zweier Gäste zurück zum Tresen ging, schlug sie sich mit der Faust leicht auf den linken Schenkel und neigte – im Glauben, dass niemand sie beobachtete – den Oberkörper zur linken Seite, woraufhin das Bein wieder beweglich wurde. Die Frau richtete sich auf und ging weiter. Du hinkst ja, du Schlampe, dachte Bill, während er, von ihrem Makel erregt, auf den Tresen zusteuerte.
»Ein Glas Whisky«, sagte er zum Barkeeper.
»Alkoholische Getränke sind verboten, Sir«, erwiderte der Mann und musterte ihn.
Bill schüttelte den Kopf und sah sich um, schließlich deutete er auf einen Gast ganz in der Nähe. »Und
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