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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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entschieden hatte, wohin er gehen sollte, sprang ab und las, noch immer zitternd vor Wut, das Bahnhofsschild. Hackensack , stand dort. Er erreichte die Bundesstraße und ging weiter in Richtung Norden. Keiner der wenigen vorbeifahrenden Lastwagen nahm ihn mit. Nach einigen Meilen jedoch hielt überraschend ein schwarzes Auto am Straßenrand. Ein Mann lehnte sich aus dem Fenster.
    »Wohin willst du, Junge? Kann ich dich mitnehmen?«
    Bill stieg ein. Der Mann war um die fünfzig und hatte ein freundliches Gesicht und das für einen Handlungsreisenden typische lockere Mundwerk. Unaufhörlich zupfte er an seiner billigen Perücke. »Plaudern hält mich wach«, erklärte er und hörte fortan nicht mehr auf zu reden.
    Als er das erste Mal in seinem Redefluss innehielt, bemerkte Bill: »Schönes Auto.«
    »Eine Tin Lizzy. Die lässt dich nicht im Stich. Das ist ein Ford.«
    »Ford«, wiederholte Bill traumverloren. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich entspannt. Er liebte Autos, und das hier war wirklich schön.
    »Das ist das T-Modell«, fuhr der Mann schwärmerisch fort und streichelte das Armaturenbrett, als wäre der Wagen ein wertvolles Rassetier. »Junge, als echter Amerikaner fährst du ein T-Modell. Und das hier ist ein Runabout, die Luxusausführung, mit Zündung und Reserverad. Der hat mich vierhundertzwanzig Dollar gekostet.«
    »Er ist bildschön.«
    »Das kannst du laut sagen«, sagte der Mann voller Stolz. »Wie heißt du, Junge?«
    »Cochrann. Aber nennen Sie mich Bill.«
    »In Ordnung, Bill. Wohin willst du?«
    »Wo werden die Fords gebaut?«
    »In Detroit, Michigan, natürlich.«
    Bill sah vor sich auf die von flimmernden Autoscheinwerfern beleuchtete Straße. Seine Ohren waren erfüllt vom gleichmäßigen Tuckern des Motors. Und da auf einmal fand er sein Lachen wieder.
    Auch der Handlungsreisende lachte. »Also, wohin willst du, Bill?«
    »Detroit, Michigan.«

22
    Manhattan, 1923
    Christmas bebte vor Wut. Seine Hände krampften sich um das Blatt Papier und zitterten vor Anspannung. Er hörte nicht das Geschrei der Kinder, die ringsum auf den mit spätem Schnee bestäubten Wiesen des Central Parks spielten; er spürte nicht die Kälte dieses Frühlingstages, der, obwohl der März bereits zur Neige ging, den Winter nicht vergessen wollte; er sah nichts außer der auf schlichtem Papier geschriebenen Nachricht. Unbändiger Hass brodelte in ihm. Seine Augen hingen an der plumpen Handschrift und überflogen wieder und wieder die Zeilen.
    Judenschlampe, denkst Du an mich? Da bin ich sicher. Ich tue noch mehr. Jeden Tag sehe ich Dich an, folge Dir, beschatte Dich. Und wann immer ich will, werde ich Dich wieder nehmen. Erinnerst du Dich, wie viel Spaß wir miteinander hatten? An meiner Schere klebt noch Dein Blut.
    In Liebe, Bill
    Ruth, die neben Christmas auf der Parkbank saß, wo sie sich nun schon seit Monaten einmal in der Woche trafen, blickte verstört vor sich hin. »Ich habe ihn niemandem gezeigt«, hatte sie gesagt, als sie Christmas den Brief gereicht hatte. »Ich habe ihn niemandem gezeigt«, sagte sie nun wieder.
    Christmas, der nur mit Mühe den Blick von Bills Nachricht lösen konnte, wandte ihr das Gesicht zu. Eine Welle zorniger Eifersucht durchströmte ihn. Sie gehört ihm, dachte er.
    Ruths Augen waren die eines kleinen Mädchens, große grüne Augen, deren Pupillen jetzt vor Angst geweitet waren.
    »Wieso hast du niemandem davon erzählt?«, wollte Christmas wissen.
    »Weil sie mir dann alles verbieten würden.«
    »Du musst es deinem Großvater sagen.«
    Schweigend senkte Ruth den Blick auf ihre verstümmelte Hand. Christmas legte den Arm um sie und drückte sie fest. Da schüttelte sich Ruth, entwand sich ihm und sprang mit hochrotem Kopf auf.
    »Versuch nie wieder, mich anzufassen«, fuhr sie ihn an.
    Christmas sah sie schweigend an. Er war an den harten Glanz gewohnt, der in ihre Augen trat, sobald er ihr näher kam als erlaubt.
    Ruth drehte sich um und steuerte auf den Bürgersteig zu, wo Fred in Uniform neben dem Wagen auf sie wartete. Bills Brief in der Hand, folgte Christmas ihr, und als er sie so in ihrem warmen Kaschmirmantel vor sich hergehen sah, dachte er erneut: Sie gehört ihm. Am Wagen angekommen, stieg Ruth wortlos ein und zog die Tür hinter sich zu.
    »Halt die Augen auf«, sagte Christmas zu Fred.
    Hinter dem Fenster saß Ruth wie zu einer Eisskulptur erstarrt. Der Motor sprang an, langsam setzte sich der Wagen in Bewegung.
    Christmas blieb regungslos auf dem

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