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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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antwortete nicht, sondern wandte sich Christmas zu. Das Mädchen, das das Haar so kurz und glatt trug wie Christmas’ Mutter, lächelte dem Neuankömmling zu. Ihr Kleid schmiegte sich eng um ihre flache Brust und fiel dann in geradem Schnitt hinab bis zu den Waden.
    »Ich muss mit Ihnen reden, Mr. Isaacson«, sagte Christmas mit ernster Miene.
    Der Alte betrachtete ihn schweigend. Schließlich nickte er ihm zu und wandte sich an den Schneider. »Ja, Asher, zwei Fingerbreit länger.«
    »Aber Coco Chanel sagt, dass ...«
    »Coco Chanel ist mir völlig egal«, fiel der Chef Asher ins Wort. »Was die in Europa machen, interessiert mich nicht. Wir sind hier in Amerika. Zwei Fingerbreit länger.«
    Der Schneider ließ den Saum heraus und steckte den Rock des Mädchens mit einer Nadel ab.
    »Wer ist Coco Chanel, Mr. Isaacson?«, fragte Christmas, nachdem die beiden anderen das Büro verlassen hatten.
    »Eine großartige Frau. Vor Kurzem habe ich Ruth das Parfüm Chanel Nº 5 geschenkt, einzigartig. Aber sie ist zu europäisch für die Amerikaner.« Saul Isaacson musterte Christmas einen Augenblick. »Nun? Du bist wohl kaum wegen einer Lektion über Madame Chanel hier, habe ich recht?«
    Christmas zog Bills Brief aus der Tasche und legte ihn vor Isaacson auf den Schreibtisch. Die Miene des Alten war undurchdringlich, während er las. Als er fertig war, knallte er den Stock auf den Tisch, erhob sich, riss die Bürotür auf und brüllte: »Greenie! Greenie!« Dann setzte er sich mit zusammengekniffenen Augenbrauen wieder hin.
    Kurz darauf betrat ein Mann in einem grellgrünen Seidenanzug und einem violett gestreiften Hemd, das zu den Hosenträgern passte, das Büro. Sein Anblick verursachte Christmas ein seltsames Gefühl des Wiedererkennens. Da war etwas in Greenies Augen, das er schon in den Straßen der Lower East Side gesehen hatte. Eine Art eisige Ruhe, wie man sie auf dem Grund eines Teiches erwartete.
    Saul Isaacson reichte dem Mann den Brief. Greenie las ihn, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Mit unbewegter Miene legte er den Brief schließlich auf den Schreibtisch und wartete, bis der Alte zu sprechen begann.
    Der hat’s geschafft, dachte Christmas bewundernd. Greenie ist ein Amerikaner.
    »Ich will nicht, dass meiner Enkelin etwas zustößt«, sagte Saul Isaacson. »Kümmer dich um die Sache.« Greenie nickte kaum merklich. Sein Haar war mit Pomade frisiert und im Nacken, wo der gedrungene, muskulöse Hals Falten bildete, raspelkurz geschnitten.
    »Und wenn du den Hurensohn findest, bring mir seinen Kopf.«
    »Sein Name ist William Hofflund«, sagte Christmas. »Bill.«
    Greenie würdigte ihn keines Blickes.
    »Der Preis spielt bei dieser Sache keine Rolle«, erklärte der Alte.
    Erneut nickte Greenie kurz, bevor er sich zum Gehen wandte. Seine glänzenden Lackschuhe knirschten.
    »Ich begleite dich«, sagte Christmas.
    »Verschwinde, Junge«, erwiderte Greenie und trat auf den Korridor hinaus.

23
    Manhattan – Brownsville, 1923
    »Hey, Kumpel ... bist du’s, oder bist du’s nicht?«
    Die Stimme ließ Christmas, der in seine düsteren Gedanken versunken gewesen war, herumfahren. Sein Blick traf auf einen spindeldürren Jungen mit dunklen Ringen unter den Augen, der einen aufgeweckten und lebenserfahrenen Eindruck machte.
    »Ich wette, du erinnerst dich nicht mehr an mich, Diamond«, sagte der Junge, während er näher kam.
    Christmas betrachtete ihn genauer. Er hatte langgliedrige Pianistenhände, die mit Wachs bestrichen waren und unnatürlich glänzten. »Du bist ...« Er versuchte, sich an den Namen des Jungen zu erinnern, den er seinerzeit im Gefängnis kennengelernt hatte. »Du bist ...«
    »Joey.«
    »Joey, natürlich! Der Taschendieb.« Christmas grinste.
    »Sprich leise, Diamond. Die Spatzen hier im Viertel müssen es ja nicht gleich von den Dächern pfeifen.« Joey sah sich verstohlen um. »Wie läuft’s bei dir?«
    Christmas, dessen Gedanken noch immer von seiner Wut beherrscht waren, winkte ab und zuckte die Schultern. Er wünschte, er hätte sich Greenie anschließen können, um Ruth zu beschützen.
    »Ich war bis vor einer Woche im Hotel «, sagte Joey ebenfalls grinsend.
    »Im Hotel?«
    »In der Besserungsanstalt in Elmira, im Norden«, erklärte Joey gespielt gleichgültig.
    Doch Christmas glaubte zu erkennen, dass Joeys Augen einen resignierten Ausdruck hatten. Und als der Junge die Hände in die Hosentaschen steckte, schien ihm, als täte er es, weil sie leicht zu zittern begonnen

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