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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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unter die Nase hielt.
    »Die beiden hatten doch selbst nichts«, protestierte Christmas.
    »Tatsächlich? Ich habe nur gesehen, dass sie Fahrkarten in der Hand hielten, Diamond. Ich weiß nicht, wer sie sind, und es ist mir auch völlig egal. So ist das Leben hier in Amerika. Einer wie ich kann jeden Tag auf einem Markt zusammengeschlagen und blutend liegen gelassen werden. In einer Minute ist alles vorbei, und die Leute gehen weiter und tun so, als hätten sie nichts gesehen. Ich werde mich nicht plattmachen lassen«, erklärte er, während der Zug heranratterte. Sie stiegen ein und suchten sich einen Platz am Ende des Waggons. »Nimm Abe den Trottel«, fuhr Joey verächtlich fort, »meinen Vater«, und seine Augen glühten vor stummem Zorn. »Er besaß nichts, als er hierherkam. Er begegnete einer Frau, die ebenso wenig besaß wie er, sie heirateten und besaßen zusammen weiterhin nichts. Dann wurde ich geboren, und da hatten sie zum ersten Mal etwas.« Er spuckte auf den Boden. »Ist das zu fassen?«
    Während Joey immer weiterredete, blickte Christmas aus dem Fenster, und die ganze Stadt kam ihm verändert vor, als hätte er bis zu dem Moment in einem Traum gelebt, einem Traum, der an seiner Liebe zu Ruth zerbrochen war. Einer unerfüllbaren Liebe. Weil er ein armer Schlucker und sie eine Westjüdin war. Weil Ruth von Bill gebrandmarkt war. Weil ihm, Christmas, nun alles schmutzig vorkam.
    »Wenn Abe der Trottel ins Gras beißt, wird man ihn auf dem Mount Zion Cemetery in eine Grube werfen, und auf dem Grab wird stehen: Geboren 1874. Gestorben ... Ach, was weiß ich. Schluss, aus. Und weißt du, wieso? Weil es zum Verrecken über Abe den Trottel nicht mehr zu sagen gibt«, höhnte Joey mit dem gleichen Zorn im Blick, der auch in Christmas’ Augen loderte.
    Auf meinem Grab wird nicht Christmas-Schluss-Aus stehen, dachte Christmas.
    »Wir müssen aussteigen«, sagte Joey schließlich. »Es ist noch ein Stück zu gehen«, setzte er hinzu, als sie den Bahnhof verließen.
    Christmas sah sich um. Dunstverhangen ragten am Horizont die Wolkenkratzer Manhattans auf. Die Häuser ringsum jedoch waren niedrig. Christmas kam es so vor, als hätte er eine andere Stadt, eine andere Welt betreten. Die Männer, die von der Frühschicht in den Mühlen oder Konservenfabriken heimkehrten, sahen so ausgelaugt und arm wie überall aus, sie wirkten wie Gespenster. Und an jeder Straßenecke ernteten sie feindselige Blicke von stämmigen Jungen, die sich als harte Kerle gebärdeten.
    »Hey, Sticky«, sagte einer von ihnen.
    »Wie läuft’s, Red?«, entgegnete Joey.
    »Und bei dir?«
    »Ich zeige meinem Kumpel Christmas von den Diamond Dogs aus der East Side die Gegend hier.«
    »Habt ihr Lust, ein paar Knochen zu brechen? Wir haben eine Ratte zu erledigen«, sagte der Schlägertyp.
    »Dich lassen sie das machen? Das muss eine Wanze sein, keine Ratte«, gab Joey zurück und ging weiter, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen.
    »Du kannst mich mal, Sticky.«
    Joey lachte. »Schönen Tag noch, Red.«
    »Wer war das?«, wollte Christmas wissen.
    »Ein ganz Tougher.«
    »Was bedeutet ›Ratte‹?«
    »Das ist einer, der zum Tode verurteilt ist.«
    Weitere zehn Minuten gingen Christmas und Joey schweigend nebeneinander her. Christmas ließ den Blick schweifen. Ja, das war eine andere Welt. Und doch die gleiche. Von Menschen bevölkert, die es nicht schafften.
    »Amerika gibt einem nichts«, sagte Joey auf einmal und blieb vor einem flachen, baufälligen Mietshaus an der Pitkin Avenue, Ecke Watkins Street, stehen. »Das, was es verspricht, bekommt man nicht durch Arbeit, wie man uns einreden will. Man muss es sich nehmen, mit Gewalt, selbst auf die Gefahr hin, dass man seine Seele dafür hergibt. Entscheidend ist, dass du zum Ziel kommst, Diamond. Und nicht, wie du dorthin gekommen bist. Nur Vollidioten diskutieren über den Weg zum Ziel.« Er zeigte mit dem Finger auf ein verwittertes Fenster im ersten Stock. »Bis dahin ist Abe der Trottel gekommen«, sagte er und ging auf das Haus zu.
    Die Wohnung war ärmlich, so wie Christmas sie zuhauf in der Lower East Side gesehen hatte. Anstatt nach Knoblauch roch es hier nach scharfen Gewürzen und geräuchertem Rindfleisch; Abbilder der Muttergottes oder des Schutzpatrons waren durch jüdische Symbole ersetzt, einen kleinen siebenarmigen Kerzenleuchter aus Messing, einen Davidstern. Andere Gerüche, andere Bilder. Nichts Neues. Und auch Joeys Mutter glich durch und durch den Frauen, die

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