Der Junge, der Träume schenkte
jetzt ein Flapper.«
Christmas sah sie verständnislos an.
»Flapper. So heißen die, die mit der Mode gehen.«
»Weil ihr Männer sein wollt?«
»Unabhängig und frei wie die Männer wollen wir sein. Wir Flapper sind unvoreingenommen.«
»Wer, ihr?«
»Die neuen Frauen. Die modernen Frauen.«
»Du siehst aus wie ein Mann«, schloss Christmas und wandte sich ab.
»Musstest du heute nicht arbeiten?«, fragte Cetta abermals.
»Ich habe keine Lust, Dächer zu teeren.«
»Sal hat gesagt, sie zahlen dir zehn Dollar.«
»Ist mir egal.«
»Zehn Dollar, Christmas.«
»Ich habe keine Lust zu solchen Handlangerjobs, von denen man ein Leben lang schmutzige Hände behält und die einem den Rücken kaputt machen. Ich will reich werden.«
»Wie denn?« Cetta kam auf ihn zu und fuhr ihm mit der Hand durch das blonde Haar, das er von seinem Vater, dem Vergewaltiger, geerbt hatte.
»Ich weiß nicht«, sagte Christmas und wich ihr genervt aus. »Ich werde einen Weg finden. Aber nicht, indem ich Dächer teere.«
»Das Leben ist anders, als man es sich in deinem Alter vorstellt ...« Zärtlich sah Cetta ihn an. Schon seit einiger Zeit war ihr aufgefallen, dass die Stimmung ihres Sohnes sich verändert hatte. Anfangs hatte er ihr von dem jüdischen Mädchen erzählt, das er gerettet hatte. Er hatte ihr von der luxuriösen Villa in New Jersey erzählt, von der riesengroßen Wohnung in der Nähe des Central Parks, von den Autos, von den Kleidern. Und davon, wie verliebt er in sie war. Cetta hatte ihm zu erklären versucht, dass sie aus verschiedenen Welten kamen, dass solche romantischen Märchen im wahren Leben nicht passierten, aber dann hatte Christmas plötzlich aufgehört, mit ihr zu reden, und sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen. Cetta hatte Angst, dass ihr Sohn, anders als sie selbst und die anderen Bewohner der Lower East Side, womöglich nicht lernen würde, sich zufriedenzugeben.
»Ist es wegen dieses Mädchens?«, fragte sie. »Bist du verliebt?«
»Was weißt du denn schon von Liebe?«, fuhr Christmas sie erbittert an. »Was weiß denn schon eine ... eine, die in deinem Gewerbe arbeitet, von Liebe?«
Cetta verspürte einen Stich im Herzen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Was geschieht mit dir, mein Kind?«, sagte sie leise.
»Ich bin kein Kind mehr!«, schrie Christmas und knallte im Hinauslaufen die Tür hinter sich zu.
Draußen auf der Straße hing der Geruch nach Knoblauch in der Luft, wie immer zur Mittagszeit. Die Einwanderer schafften es einfach nicht, sich von ihrer Herkunft, von ihrer untergeordneten Rolle in der Gesellschaft abzunabeln. Der gleiche Duft aus jeder der unzähligen Wohnungen des Stadtviertels. Ich bin nicht wie ihr, dachte Christmas, noch immer in den Fängen der Wut, die er am liebsten an der ganzen Welt ausgelassen hätte. Ich bin Amerikaner. Zornig trat er gegen einen Stein.
»Was ist los mit dir?«, erkundigte sich Santo, der ihn vom Fenster im ersten Stock aus gesehen hatte. Trotz der Proteste seiner Mutter war er gleich zu ihm auf die Straße gelaufen.
Christmas zog Bills Brief aus der Tasche und hielt ihn ihm hin. Während Santo las, wurde er immer blasser; die roten Pickel in seinem Gesicht schienen noch leuchtender hervorzutreten.
»Und?«, fragte Christmas, als Santo ihm den Brief zurückgab.
»Scheiße!«
»Wir müssen sie beschützen«, sagte Christmas. »Wir müssen ihr Rückendeckung geben.«
»Wer, wir?«, und Santo wurde noch bleicher und verdrehte die Augen. Instinktiv, als wäre Christmas der Träger eines gefährlichen Virus, wich er einen Schritt zurück.
»Na, wir. Wer denn sonst? Und wenn wir ihn erwischen, reiß ich ihm das Herz durch den Hintern raus.«
Santo trat einen weiteren Schritt zurück. »Der hat seine Eltern abgestochen wie zwei Schweine«, sagte er mit zitternder Stimme. »Und er hat Ruth das angetan. Er ist gefährlich ... Zwei wie uns macht der doch im Handumdrehen fertig.«
»Du scheißt dir in die Hosen. Wie immer. Scher dich zum Teufel, Santo.«
»Christmas ... warte ...«
»Scher dich zum Teufel.« Christmas rannte davon und stieß dabei jeden zur Seite, der ihm in den Weg kam. Scheißgegend, dachte er, immer noch rasend vor Wut. Und mit dieser Wut im Herzen erschienen ihm die Männer und Frauen seines Viertels plötzlich kleiner, behaarter und hässlicher als zuvor. Ihre Blicke waren trostlos, ihre Rücken von Elend und Hoffnungslosigkeit gebeugt, ihre ewig leeren Taschen zeugten vom Hunger, sie klafften auf wie
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