Der Junge, der Träume schenkte
Bürgersteig stehen. In dem Moment wandte Ruth ihm den Blick zu. Nun, da sie davonfuhr, war die Härte aus ihren Augen verschwunden. Sie legte die verstümmelte Hand ans Fenster und sah ihn eindringlich an, bevor sie im Verkehr der Stadt verschwand.
Christmas’ Blick fiel wieder auf Bills Brief, den Ruth vergessen hatte zurückzufordern. Ein paar Kinder liefen lärmend an ihm vorbei und bewarfen einander mit Schneebällen. Ein gefrorenes Geschoss landete direkt vor Christmas’ Füßen. Als er sich umdrehte, stand ihm noch immer grenzenlose Wut ins Gesicht geschrieben.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte einer der Jungen erschrocken. Er war höchstens vier Jahre jünger als Christmas, doch zwischen den beiden schienen Jahrzehnte zu liegen. Christmas war unversehens zum Mann geworden. Die Liebe hatte ihn viel zu schnell erwachsen werden lassen. Sie war etwas Brennendes, Aufreibendes, sie machte schön, aber auch hässlich.
Die Dinge hatten sich nicht so entwickelt, wie Christmas es sich gewünscht hatte. Seit Monaten sahen Ruth und er sich einmal in der Woche, immer freitags. Sie trafen sich am Central Park West, Ecke 72nd Street, und nachdem Christmas Fred begrüßt hatte, ging er mit Ruth in den Park, wo sie sich auf »ihre« Bank setzten. Mit Blick auf den nahe gelegenen See sprachen sie über dies und das, scherzten und lachten, doch ebenso gab es lange Augenblicke, in denen sie schwiegen, als bedürfe es keiner Worte zwischen ihnen. Und jedes Mal, wenn sie sich verabschiedeten, war Christmas ein wenig erwachsener geworden. Ruth stieg in den luxuriösen Rolls-Royce ihres Großvaters, er suchte in seinen Taschen nach etwas Kleingeld, damit er am Bahnhof in der 72nd Street den Zug der BMT-Linie nehmen konnte, der ihn ins Lower-East-Side-Ghetto zurückbrachte. Ruth trug warme Mäntel und mit Kaninchenfell gefütterte Handschuhe, die sie vor der schneidenden Winterkälte schützten, er zog die Schultern hoch, die Stoffjacke bis zum Hals zugeknöpft, und sah auf seine aufgeplatzten Fingerknöchel herunter. Sie war eine reiche Westjüdin, er ein Wop , wie man die Italiener abfällig nannte.
Doch was ihn vor allem so schnell hatte erwachsen werden lassen, war die Liebe, die er von Zeit zu Zeit in Ruths Augen erkannte. Die Liebe, gegen die sie Tag und Nacht verzweifelt ankämpfte. Bill hatte sie zusammengebracht und zugleich voneinander getrennt. Mit seinen schmutzigen Händen und seiner Schere und seiner Gewalt hatte er aus der Liebe etwas Schmutziges und Verabscheuungswürdiges gemacht, und Ruth gelang es einfach nicht, darin etwas anderes zu sehen als Schmutz und Verderbtheit. Deshalb hielt sie auch Christmas auf Abstand. Je mehr Zeit verging, desto weniger wusste er mit dieser Liebe umzugehen. Unterdrückt und doch ungestüm blieb sie in seinem Herzen verschlossen und vergiftete ihn mehr und mehr. Christmas war argwöhnisch geworden; sein Blick hatte sich verfinstert; seine Hoffnungen und Träume, seine Fröhlichkeit und Unbeschwertheit waren nur noch verschwommene Kindheitserinnerungen, die den wütenden Sturm im Inneren des Erwachsenen nicht überlebt hatten.
Während Christmas mit Bills Brief in der Hand zurück nach Hause fuhr, bebte er vor Wut. In seinem Kopf überschlugen sich Gedanken, die keine konkrete Form annehmen, aber auch nicht schweigen wollten. Wie ein körperloser Geisterschwarm, der heulend durch die Luft schwirrte, ohne einen klaren Luftstrom zu erzeugen.
Leise schlüpfte er in die Wohnung. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter war geschlossen. Sie schlief offenbar noch. Christmas ging in den Salon und schaltete leise das Radio ein.
»Kauf einen Ford und erlebe den Unterschied«, warb ein Sprecher gerade. »Und nicht vergessen: Seit 1909 können Sie ihn in jeder Farbe haben ... sofern es Schwarz ist.« Man hörte Gelächter über Henry Fords berühmten Scherz, dann einen kurzen Jingle und schließlich: »Schon für nur zweihundertneunundsechzig Dollar kann die Tin Lizzy Ihnen gehören ...«
»Wieso bist du zu Hause?« Cetta war verschlafen im Salon erschienen. »Musstest du nicht arbeiten?«
»Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?«, fragte Christmas statt einer Antwort und verdrehte die Augen.
»Gefalle ich dir nicht? Das ist der letzte Schrei.« Cetta vollführte vor Christmas eine Pirouette. Ihr Haar war zu einem kinnlangen Pagenkopf geschnitten, der den Nacken frei ließ.
»Du siehst aus wie ein Mann.«
»Das ist die allerneueste Mode«, erwiderte Cetta schulterzuckend. »Ich bin
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