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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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die Münder ihrer schreienden, unterernährten Kinder. Und während Christmas davonlief, kam es ihm so vor, als hallte die ewig gleiche alte Leier all dieser von Armut geplagten Menschen in seinen Ohren wider. Vom Himmel und von der Sonne ihres Heimatdorfes hörte er sie reden, von Maultieren, Schafen, Hühnern und dem kargen Ackerland, das im Schweiße ihres Angesichts gepflügt und mit dem Blut ihrer Hände gedüngt werden musste und das, wie sie sagten, das Einzige war, was für sie auf dieser Welt zählte. Auch hörte er all ihr Gerede über Amerika, diese »außergewöhnliche Nation«, die alles versprach und keines der Versprechen hielt. Und während Christmas die Leute zur Seite stieß und sich zwischen fliegenden Händlern und Marktweibern hindurchdrängte, empfand er ein zorniges Unbehagen, weil diese Menschen von Amerika sprachen wie von einer Illusion, als existierte es nur in Erzählungen und läge nicht gleich vor ihrer Haustür. Als wären sie dorthin aufgebrochen, aber niemals angekommen.
    Mit gesenktem Kopf durchquerte er die Gegend, die von allen Bloody Angle genannt wurde, in Chinatown, zwischen der Doyer, der Mott und der Pell. Die Hautfarbe wandelte sich, und aus soßenbespritzten Unterhemden wurden kragenlose Gewänder. Die Form der Augen veränderte sich und die Gerüche auf der Straße – ein Gemisch aus Zwiebeln, Opium, Frittierfett und Stärkedampf aus den Reinigungen erfüllte nun die Luft –, doch die Blicke waren so hoffnungslos wie die in der Lower East Side. Bloody Angle war nichts als ein weiteres Ghetto, ein weiteres Gefängnis.
    Das ist eine Welt, die niemand verlässt. Eine Welt ohne Türen und Fenster, dachte Christmas bei sich. Ich dagegen werde fortgehen. Den Kopf noch immer gesenkt, als müsste er gegen den Wind ankämpfen, ging er schnell weiter, rannte beinahe, ohne Ziel, als versuchte er, dem Labyrinth zu entkommen, in dem sich all die anderen verirrt hatten. Entschlossen setzte er seinen Weg fort, bis er den Rand der Elendsviertel erreicht hatte.
    Als Christmas atemlos stehen blieb und den Blick hob, stellte er fest, dass er sein Ziel von Anfang an gekannt hatte. Ganz oben an dem wuchtigen quadratischen Ziegelsteingebäude vor ihm stach ein vom Regen ausgewaschener Schriftzug hervor: Saul Isaacson’s Clothing . Die Hand, die während der ganzen Zeit Bills Drohbrief umklammert gehalten hatte, lockerte sich. Er war angekommen. Er allein wusste, was das Beste für Ruth war.
    Am glänzenden Kotflügel des Rolls-Royce lehnte Fred und rauchte eine Zigarette.
    »Hallo, Fred«, sagte Christmas. »Ruth hast du zu Hause gelassen, oder?«
    »Natürlich.«
    »Alles ruhig?«
    »Was ist los?«
    »Schon gut, Fred. Ist der Alte da drin?« Mit dem Kinn deutete Christmas auf das Fabrikgebäude.
    Seufzend wollte der Chauffeur ihn wegen der respektlosen Bezeichnung korrigieren, doch Christmas unterbrach ihn.
    »Ja oder nein, Fred? Die Lage ist ernst.«
    »Ja, Mr. Isaacson ist in seinem Büro im zweiten Stock.« Daraufhin drehte Fred sich nach einem stämmigen Kerl um, der vor dem Eingang mit den zwei schweren roten Eisenschiebetüren postiert war. »Lass ihn rein! Es ist wegen der Streiks, Mister Luminata ...«, fügte Fred erklärend hinzu.
    »Du bist ein wahrer Freund«, sagte Christmas.
    »Stecken Sie in Schwierigkeiten, Mister?«
    Christmas zwinkerte ihm zu und wandte sich dem Eingang zu. Der Wachmann trug einen Schlagstock im Hosenbund. Christmas hob zum Gruß das Kinn, bevor er im Gebäude verschwand.
    Lautes Gesumme wie in einem mechanischen Bienenstock empfing ihn. Ein paar Männer, in der Mehrzahl aber Frauen, saßen, ein jeder über eine Nähmaschine gebeugt, zu Dutzenden dicht an dicht und führten alle die gleichen Handbewegungen aus, schnell, effizient, beinahe synchron. All diese Arbeiter waren Juden; Christmas entdeckte keinen einzigen Amerikaner unter ihnen. Aber ich werde fortgehen, sagte er sich erneut, bevor er, ohne anzuklopfen, die Tür zum Büro des Fabrikbesitzers öffnete.
    Saul Isaacson saß hinter einem wertvollen Schreibtisch, im Mund eine lange, helle Zigarre, den Stock quer über den Tisch gelegt. Neben ihm stand ein volles Glas Branntwein. Die Prohibition kümmerte den Alten offenbar nicht. Mitten im Zimmer, das mit einem dunklen Teppich ausgelegt war, kniete ein zierlicher Mann mit Glatze, einem langen Bart und Stecknadeln im Mund vor einem großgewachsenen, gertenschlanken Mädchen.
    »Noch länger?«, fragte der Schneider gerade zweifelnd.
    Saul Isaacson

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