Der Junge, der Träume schenkte
hatten. »War es hart?«, erkundigte er sich.
»Wie Ferien«, antwortete Joey mit einem kleinen Lachen, doch es klang freudlos. »Du kriegst umsonst zu essen und schläfst den ganzen Tag.«
Christmas musterte ihn schweigend.
Verlegen senkte Joey den Blick. Als er wieder aufblickte, grinste er spöttisch. »Du schließt eine Menge neuer Freundschaften und lernst das wahre Leben kennen.«
Christmas wusste, dass er log. Dennoch durchfuhr ihn wie bei Greenie ein Anflug von Bewunderung. Auch Joey wünschte sich, aus dem Ghetto herauszukommen.
»Im Hotel hatte keiner je von den Diamond Dogs gehört«, sagte Joey.
»Tja ... wir sind noch neu. Aber wir arbeiten uns gerade hoch.«
»Womit seid ihr denn im Geschäft?«
»Zurzeit beschützen wir ein Mädchen vor einem Killer.«
»Heilige Scheiße! Ein Killer! Du redest von einem echten Killer?«
»Zwei hat er schon umgelegt.«
»Das klingt allerdings nach einem Job für die Bullen«, bemerkte Joey. »Nichts für ungut, Diamond.«
»Man bezahlt uns gut.«
»Wer?«
»Irgend so ein Jude. Wir werfen auch ein Auge auf seine Fabrik. Er ist stinkreich.«
»Aha, ein Westjude.« Joey grinste spöttisch.
»Was weißt du denn davon?«
»Du kennst dich nicht aus mit Juden, was?«, gab Joey überlegen lächelnd zurück. »Ich schon. Seit ich in den Windeln gelegen habe, höre ich nur von Abraham und Isaak, von der Sintflut, den Sieben Plagen, Exodus, den Zehn Geboten ...«
Christmas runzelte die Stirn.
»Ich bin selbst Jude, Diamond.« Joey lachte wieder, und zum ersten Mal blitzten seine Augen belustigt auf. »Joey Fein, genannt Sticky, weil mir sämtliche Geldbörsen an den Fingern kleben bleiben, Sohn von Abe dem Trottel, einem Ostjuden, der in dem Glauben hierherkam, das Gelobte Land zu finden, und zwanzig Jahre danach noch immer mit einem Pappkoffer und Löchern in den Schuhen durch die Straßen zieht und Krawatten und Hosenträger verkauft. Verstehst du jetzt, wieso ich alles über die Juden weiß? Die aus dem Westen sind die Geldsäcke, wir aus dem Osten die armen Schlucker.«
»Ich dachte immer, alle Juden wären reich ...«
»Ach ja? Na, dann komm mal zu mir nach Brownsville, und ich werde dich vom Gegenteil überzeugen.«
»Wohin?«
»Menschenskind, Diamond, bist du noch nie aus der East Side rausgekommen? Brownsville, der dreckige Hintern Brooklyns.« Joey musterte Christmas für einen Moment. »Hey, was liegt heute bei dir an?«
»Heute? Nichts ...«
»Und dein Killer?«
»Auf den habe ich Greenie angesetzt, dem kann ich vertrauen.«
»Warum kommst du dann nicht mit mir nach Brownsville? Ich muss was für die Shapiros erledigen ... Kennst du die?«
»Ich hab von ihnen gehört, ja ...«, schwindelte Christmas.
»Glücksspielautomaten und andere Geschäfte. Die werden sich einen Namen machen, wenn man sie nicht vorher umbringt. Alt werden ist nicht leicht in dem Job«, erklärte Joey mit wissender Miene.
»Stimmt, ist nicht leicht«, sagte Christmas, um sich keine Blöße zu geben.
»Was ist nun? Gehen wir?«
Christmas spürte, dass er im Begriff war, eine neue und gefährliche Welt zu betreten. Er musste an die mahnenden Worte seiner Mutter denken – er kannte sie auswendig, seit er ein kleiner Junge war. Und an die Geschichten der vielen Jungen, die nicht auf die Ermahnungen ihrer Mütter hatten hören wollen, die versucht hatten, ihr Schicksal zu überlisten. Er zögerte. Aber ihn hatte eine seltsame Erregung ergriffen. Ich werde von hier weggehen, dachte er. Er zuckte mit den Schultern und lächelte. »Gehen wir.«
Joey stieß einen Pfiff aus, legte ihm den Arm um die Schultern und steuerte auf die BMT-Haltestelle in der Bowery zu. Als sie vor den Gittern standen, kramte Christmas in seinen Hosentaschen nach Kleingeld.
»Nicht doch, Kumpel«, sagte Joey. »Was zum Teufel gibt dir diese Stadt? Nichts. Also geben wir ihr auch nichts.« Er ließ den Blick ringsum über die Menschenmenge in der U-Bahn schweifen. »Da haben wir sie«, sagte er dann und ging auf eine müde aussehende Frau ganz in Schwarz zu, die einen Korb mit Dörräpfeln in der Hand hielt. Bei ihr war ein ebenfalls schwarz gekleidetes junges Mädchen, dessen Gesicht bereits abgezehrt wirkte wie das einer alten Frau. Wie zufällig rempelte er beide an, stieß den Korb um, entschuldigte sich, half der Frau, die Äpfel wieder einzusammeln, klopfte ihr auf die Schulter und streichelte dem Mädchen über die Wange, bevor er zu Christmas zurückkehrte und ihm zwinkernd zwei Fahrkarten
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