Der Junge, der Träume schenkte
Bühne ein Lied in einer fremden Sprache. Auch Cetta stand auf. Ihr jedoch ging es darum, Andrew zu beobachten.
Der Arbeiter an Cettas Seite starrte ihr in den Ausschnitt. »Kennst du die Marseillaise nicht?«
»Du kannst mich mal«, gab Cetta zurück und sah wieder hinüber zu Andrew, der singend die Frau mit der Brille im Arm hielt.
Sie verfolgte die zweite Szene, in der während der Zusammenstöße mit der Polizei ein bedauernswerter Pechvogel, der von der Veranda aus die Unruhen beobachtete, versehentlich durch einen Schuss getötet wurde. Er hieß Valentino Modestino.
Immer müssen Italiener dran glauben, ging es Cetta durch den Kopf, während sie wieder zu Andrew blickte. In der dritten Szene wurde der von roten Streikfahnen bedeckte Sarg Modestinos, vom Trauermarsch untermalt, zu Grabe getragen. Als wäre der Mann ein Held. Er war keiner von euch. Das alles bedeutete ihm überhaupt nichts, dachte Cetta wütend. Dann sah sie wieder hinüber zu Andrew, und mit brüchiger Stimme sagte sie leise: »Er hatte dich nicht gebeten, ihm etwas beizubringen.«
Von dem Moment an gelang es Cetta nicht mehr, der Vorstellung zu folgen, so beherrscht war sie von dem Gedanken, den ihr Verstand nicht in Worte fassen wollte, während ihr Blick unentwegt auf Andrew und seiner Frau lag. Ich bin nicht wie ihr, dachte sie. Und während das Publikum die Internationale anstimmte, fiel Cetta auf, dass der Arbeiter neben ihr noch immer in den Ausschnitt ihres Kleides schielte. Nein, ich bin nicht wie ihr, dachte sie erneut und ließ sich vom Gefühl des Fremdseins überwältigen. Ich bin eine aufgetakelte Hure.
In dem Moment bemerkte Andrew sie. Ihre Blicke trafen sich für eine Sekunde, dann sah Andrew betreten weg. Und auch Andrews Frau bemerkte Cetta.
Als die Vorstellung vorbei war, strömte die Menge hinaus auf die Straße. Cetta sah Andrew aufgeregt mit den Leuten reden. Etwas weiter weg verteilte seine Frau Flugblätter. Cetta fiel auf, dass sie immer wieder zu ihr herüberstarrte. Dann kam die Frau auf sie zu. Inmitten des Gedränges standen sie sich mit nicht einmal einem Schritt Abstand gegenüber. Mit unverhohlener Verachtung musterte Andrews Frau Cettas Kleid.
»Er hatte mir nicht gesagt, dass das hier ein Maskenball sein würde«, sagte Cetta.
Andrews Frau nahm die Kappe ab und schüttelte ihr Haar. Es war blond, glatt und fein. Und sie hat die blauen Augen einer Amerikanerin, dachte Cetta. Wie Andrew.
»Hat er dir wenigstens beigebracht, ein Gewissen zu haben?«, fragte die Frau und musterte sie mit einem sarkastischen Lächeln.
»Und hat er dir beigebracht, wie man fickt?«, gab Cetta mit ihren schwarzen Augen und dem im Nacken zu einem Knoten geschlungenen krausen Haar zurück.
Der Hieb hatte offenbar gesessen. Für eine Sekunde senkte die Frau verletzt den Blick. Cetta bemerkte, dass Andrew auf sie aufmerksam geworden war. Er war bleich und wirkte besorgt. Schwach. Kläglich.
»Er gehört ganz dir«, sagte Cetta da. »Er hat es nur geschafft, mir beizubringen, dass ich eine Hure bin. Aber das wusste ich auch vorher.« Damit drehte sie sich um und stürzte sich in die Menge, die den Streik in Silk City bejubelte.
Auf dem Heimweg kaufte sie sich eine Modezeitschrift. Anschließend lief sie nach Hause, von unbändiger Wut angetrieben. Sie fühlte sich so gedemütigt, dass es ihr den Atem raubte. Statt ins Kellergeschoss ging sie hinauf in den zweiten Stock und hämmerte gegen Signora Sciaccas Tür. Was hast du dir denn eingebildet?, fragte sie sich wieder und wieder.
Mit einem blauen Wollumhang über dem Nachthemd öffnete die beleibte Frau verschlafen die Tür. »Es ist spät«, sagte sie.
»Ich muss Christmas sehen«, drängte Cetta, ohne einen vernünftigen Grund zu nennen.
»Er schläft ...«
»Ich muss ihm etwas Wichtiges sagen. Lassen Sie mich durch.« Damit stieß Cetta Signora Sciacca beiseite und stürmte wie eine Furie in die Wohnung. Sie lief zum Kinderbett, in dem Christmas schlief, hob ihn hoch und riss ihn dabei gewaltsam aus dem Schlaf.
Christmas brummelte etwas. Dann schlug er die Augen auf und erkannte seine Mutter. Er war inzwischen fünf Jahre alt, die blonde Locke hing ihm zerzaust in die Stirn. Seine Augen blickten erschrocken.
Cetta trug Christmas zum Wohnzimmerfenster und öffnete es. Sie setzte ihn auf die Fensterbank und hielt ihm die Modezeitschrift vor die Nase.
Das Kind war wie erstarrt.
»Sieh ihn dir gut an, das ist ein Amerikaner«, sagte Cetta, während sie Christmas ein
Weitere Kostenlose Bücher