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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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hinter dessen Mattglasscheibe sich undeutlich die Gefängnisgebäude von Blackwell’s Island abzeichneten wie die Umrisse eines riesigen, geometrisch geformten Gespenstes.
    »Ich krieg ihn nicht raus«, sagte Cetta. Sie hob die Hand an ihren Mund und biss vorsichtig in die Stelle, wo der Splitter in die Haut eingedrungen war. »Tue ich dir weh?«
    Sal sah sie wortlos an. Er war blass, und in seinen Augen lag ein resignierter Ausdruck.
    Cetta hielt seinem Blick nicht stand und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Splitter zu. »Geschafft. Er ist raus.« Sie spuckte aus.
    »Danke«, erwiderte Sal und starrte erneut auf das Gespenst hinter der matten Scheibe.
    Cetta schmiegte sich an seine Brust. »Du hast abgenommen«, stellte sie fest, während Sal regungslos dastand. »Nimm mich in den Arm«, bat Cetta.
    Sal rührte sich nicht. »Was hat sich verändert?«, fragte er.
    Cetta erstarrte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. »Was sich verändert hat?«, wiederholte sie mit unsicherer Stimme.
    Sal rückte von ihr ab. »Ich meine, in New York«, sagte er und setzte sich wieder.
    Cetta sah ihn prüfend an. Sal sprach nicht von New York. Sie konnte es in seinen glanzlosen Augen lesen. Es waren die Augen eines Mannes, der Bescheid wusste, aber nichts tun konnte, um seine Frau zu halten. Weil er ein Gefangener war.
    »Gerade werden eine Menge neuer Wolkenkratzer gebaut«, erzählte Cetta, während sie wieder ihm gegenüber Platz nahm.
    »Gut ...«, sagte Sal abwesend.
    Wieder schwiegen sie.
    »Die Mädchen lassen dich grüßen. Und Ma’am auch.«
    Sal erwiderte nichts.
    »Sie vermissen dich alle.«
    Wortlos sah Sal sie an.
    »Ich vermisse dich«, sagte Cetta und ergriff seine Hände.
    »Ja ...«
    Erneut senkte sich Schweigen über sie.
    »Sal ...«, hob Cetta an.
    Doch er stand beinahe ruckartig auf. »Ich muss gehen«, sagte er und wandte sich von ihr ab. Er klopfte an die Tür, die von einem Gefängniswärter bewacht wurde. »Mach auf«, rief er laut.
    »Sal ...«
    »Ich muss für heute Abend noch den Schreibtisch des Direktors fertig polieren«, fiel Sal ihr abermals ins Wort, ohne sie anzusehen.
    Cetta hörte, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Die Tür ging auf.
    Auf dem Boot der New Yorker Strafvollzugsbehörde spürte Cetta erneut ein Stechen in der Magengegend. Wie ein alter Kummer. Wie eine schmerzliche Erinnerung, ein brennendes Gefühl, eine Mischung aus Sehnsucht und Schuldbewusstsein. Sie fühlte sich schmutzig. Tränen schossen ihr in die Augen.
    Es war Donnerstag. Sie würde Andrew in der Pension am South Seaport treffen, sich ausziehen, ihn in sich aufnehmen, und er würde sie, bevor er ging, mit einer Eintrittskarte fürs Theater belohnen.
    Am Samstag, dem siebten Juni 1913, stand Cetta vor dem Eingang des Madison Square Garden. Über den Köpfen der Zuschauer, die sich vor den Kartenschaltern drängten, erregte zuallererst das Theaterplakat ihre Aufmerksamkeit. Es war ganz in Schwarz gehalten. Aus dem Schwarz stach nur das Brustbild eines jungen Arbeiters hervor. Die rechte Hand mit gespreizten Fingern in die Höhe gereckt, blickte er entschlossen geradeaus. Der linke Arm war nach hinten gebogen und verlor sich unterhalb des Ellbogens im Dunkeln. Hinter dem stolzen Kopf des jungen Arbeiters schienen drei Buchstaben auf, IWW , die Abkürzung für Industrial Workers of the World . Das Stück trug den Titel Das Festspiel vom Paterson-Streik . Und darunter stand in kleinerer Schrift: Aufgeführt von den Streikenden selbst .
    Die Eintrittskarte fest in der Hand, bahnte sich Cetta einen Weg durch die Menge und trat näher an das Plakat heran. Im unteren Teil waren die Eintrittspreise angegeben. Logen: $20 und $10. Sitzplätze: $2 – $1,5 – $1 – 50 Cent – 25 Cent – 10 Cent . Cetta warf einen Blick auf ihre Karte: $1 . Dann sah sie sich nach Andrew um.
    »Ich werde mich nicht zu dir setzen können, Liebling«, hatte er ihr erklärt, als er ihr die Karte überreicht hatte. »Ich muss bei den Funktionären bleiben. Das verstehst du doch, nicht wahr?«
    Doch Cetta wollte ihn wenigstens kurz sehen, bevor das Stück begann. Vielleicht würde sie ihn nicht küssen können, aber sie würde ihm die Hand schütteln. Er war der erste und einzige Mann, der sie in ein Restaurant eingeladen hatte. Und er war der erste und einzige Mann, der sie ins Theater eingeladen hatte. Ein bedeutender und guter Mann, der sich all der Menschen annahm, die sich in Silk City seit Anfang Februar im Streik

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