Der Junge, der Träume schenkte
wusste er. Doch Christmas schien nicht auf den Angsthasen verzichten zu wollen. Im Gegensatz dazu hatte der Anführer der Diamond Dogs Talent, fand Joey. Er war clever und lernte schnell.
Seit wenigen Tagen war mit einem Schlag der Sommer über die Stadt hereingebrochen. Der Asphalt auf den Straßen schien zu schmelzen.
»Was für eine Scheißhitze«, sagte Christmas. »Lasst uns einen Hydranten aufdrehen.«
»Kostenlose Dusche«, lachte Joey.
Santo wurde blass. Wie üblich stand ihm die Angst ins Gesicht geschrieben. Christmas schlug ihm auf die Schultern. »Joey und ich gehen allein.«
»Warum?«, wollte Santo wissen.
»Du musst für mich in der Bäckerei in der Henry Street vorbeischauen.«
»Und was soll ich da?«
Christmas kramte ein paar Münzen aus der Hosentasche. »Kauf ein Stück Kuchen und bring es deiner Mutter.«
»Ja, aber ...«
»Tu es einfach, Santo. Wenn du’s nicht gleich kapierst, kapierst du’s später. Du kennst doch die Regel.«
Joey klopfte sich vor Lachen auf den Schenkel. Beschämt senkte Santo den Blick.
»Kumpel«, sagte da Christmas und legte ihm den Arm um die Schultern, »du brauchst nur für mich hinzugehen und dich blicken zu lassen. Das genügt schon. Kauf ein Stück Kuchen. Und bezahl es mit zehn Dollar.« Er gab Santo noch einen Geldschein. »Die kennen dich. Die wissen, dass du einer von den Diamond Dogs bist. Zeig ihnen, dass wir gut im Geschäft sind. Und dass es uns nicht an Geld fehlt. Dann geh nach Hause zu deiner Mutter.«
»Okay, Chef«, entgegnete Santo. Er hatte sein Lächeln wiedergefunden. »Hier, deine Nickel«, sagte er und gab ihm das Kleingeld zurück.
»Danke, Santo. Ich schulde dir was.«
»Wir sind doch die Diamond Dogs, oder nicht?«
Christmas wartete, bis Santo um die Ecke gebogen war, bevor er Joey den Zeigefinger an die Brust hielt. »Wenn du ihn noch einmal auslachst, reiß ich dir den Arsch auf.«
Mit erhobenen Händen wich Joey einen Schritt zurück.
Christmas sah ihn schweigend an. »Ich habe mich entschieden, ihn loszuwerden.«
Ruth schlug ihr Tagebuch auf. Sie strich mit dem Finger über neun sorgsam getrocknete Blumen. Neun Blumen, die Christmas ihr vor beinahe einem Jahr geschenkt hatte. Neun, wie die Finger an ihren Händen.
Ringsum auf dem Pausenhof der exklusiven Schule, die sie besuchte, lachten und scherzten ihre Klassenkameraden und die Schüler aus den anderen Klassen miteinander. Ruth hielt sich abseits. Hinter dem Gitterzaun konnte sie einen der schrecklichen Kerle erkennen, die ihr Großvater zu ihrem Schutz engagiert hatte. Jedes Mal, wenn sie das Haus verließ, hängte sich einer dieser Männer an ihren Rockzipfel. Einmal hatte ein Junge aus einer höheren Jahrgangsstufe sich ihr aus Spaß genähert, woraufhin Großvaters Gorilla ihn am Arm gepackt und sie gefragt hatte: »Alles in Ordnung, Miss Isaacson?« Seit diesem Tag nannte man sie in der Schule »Alles-in-Ordnung-Miss-Isaacson«. Ruth hatte sich noch mehr zurückgezogen. Sie war abweisend geworden. Zu den wenigen Partys, zu denen sie noch eingeladen wurde, ging sie erst gar nicht mehr hin.
Doch es gab noch einen anderen Grund, weswegen sie sich von ihren Mitschülern fernhielt: Sie war vierzehn Jahre alt, und mit ihrem Körper ging etwas vor sich, worüber sie keine Kontrolle hatte. Er veränderte sich. Ihre Brüste wuchsen langsam und füllten ihre Bluse aus. Anfangs hatten ihre Brustwarzen geschmerzt, ein matter Schmerz, als wäre sie gekniffen worden. Seither waren sie empfindlicher. Wenn Ruth sie nun berührte, empfand sie es als angenehm und unangenehm zugleich. So ähnlich wie Sehnsucht. Das Schlimmste war jedoch gewesen, als sich eines Morgens nach einem kalten Krampf in ihrem Unterleib ein warmer roter Strahl über die Innenseite ihrer Schenkel ergossen hatte. Wie erstarrt, mit Tränen in den Augen, hatte sie im Bad gestanden. Blut, wie es ihr an den Beinen hinabgelaufen war, nachdem Bill sie vergewaltigt hatte. Der gleiche Schmerz in ihrem Leib. Und fortan erinnerte ihre weibliche Natur sie Monat für Monat an Bill und daran, dass sie beschmutzt worden war.
Als Ruth die Zeitschriften ihrer Mutter durchgeblättert hatte, war sie auf die neue Mode gestoßen. Die Flapper. Sie trugen Kurzhaarschnitte, und manche banden sich die Brust ab, um androgyner zu wirken. Und im gleichen Augenblick hatte Ruth beschlossen, ein Flapper zu werden und sich die Brust so eng abzubinden, dass sie so flach aussah wie die eines Mannes.
Ruth wandte den Kopf zu einer Gruppe
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