Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
spielen? Hatte er Tuberkulose?«
Oberleutnant Kotler starrte Vater verwirrt an. »Wie bitte?«, fragte er.
»Ging er in die Schweiz, um frische Luft zu schöpfen?«, erklärte Vater. »Oder gab es einen besonderen Grund, warum er Deutschland verließ? Neunzehnhundertachtunddreißig«, setzte er kurz darauf hinzu.
»Ich fürchte, ich weiß es nicht, Herr Kommandant«, sagte Oberleutnant Kotler. »Das müssten Sie ihn fragen.«
»Nun ja, das dürfte ziemlich schwierig sein, nicht? Schließlich ist er weit weg. Aber vielleicht lag es daran. Vielleicht war er krank.« Vater zögerte, bevor er sein Besteck wieder zur Hand nahm und weiteraß. »Aber vielleicht gab es auch ... Diskrepanzen.«
»Diskrepanzen, Herr Kommandant?«
»Mit der Regierungspolitik. Hin und wieder hört man Geschichten von solchen Männern. Seltsame Burschen, stelle ich mir vor. Gestört, einige davon. Andere Verräter. Oder Feiglinge. Sie haben Ihre Vorgesetzten natürlich über die Ansichten Ihres Vaters informiert, Oberleutnant Kotler?«
Der junge Oberleutnant öffnete den Mund und schluckte, obwohl er gar nichts gegessen hatte.
»Nicht so wichtig«, sagte Vater heiter. »Vielleicht ist das nicht die passende Unterhaltung für ein Abendessen. Wir können das Ganze zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher erörtern.«
»Herr Kommandant«, sagte Oberleutnant Kotler und beugte sich beflissen vor. »Ich kann Ihnen versichern ...«
»Es ist keine passende Unterhaltung für ein Abendessen«, wiederholte Vater scharf und brachte den Oberleutnant auf der Stelle zum Verstummen. Bruno sah von einem zum anderen; er fand die angespannte Atmosphäre gleichzeitig schön und unheimlich.
»Ich würde unglaublich gern mal in die Schweiz fahren«, sagte Gretel nach längerem Schweigen.
»Iss einfach weiter, Gretel«, sagte Mutter.
»Ich meinte ja bloß!«
»Iss einfach weiter«, wiederholte Mutter und wollte noch mehr sagen, wurde aber von Vater unterbrochen, der wieder nach Pavel rief.
»Was ist heute Abend los mit dir?«, fragte er, während Pavel die neue Flasche entkorkte. »Schon zum vierten Mal muss ich dich bitten, mir Wein nachzuschenken.«
Bruno beobachtete Pavel und hoffte inständig, dass es ihm gut ging, aber er schaffte es, den Korken ohne ein Missgeschick zu entfernen. Kaum aber hatte er Vaters Glas gefüllt und sich umgedreht, um Oberleutnant Kotler nachzuschenken, rutschte ihm die Flasche irgendwie aus der Hand, und der Inhalt ergoss sich gluckernd auf die Oberschenkel von Kotler.
Was dann passierte, kam unerwartet und war äußerst unangenehm. Oberleutnant Kotler wurde sehr wütend auf Pavel, und keiner – nicht Bruno, nicht Gretel, nicht Mutter und auch nicht Vater – griff ein, um ihn von dem abzuhalten, was er als Nächstes tat, auch wenn niemand dabei zusehen mochte. Auch wenn es Bruno zum Weinen brachte und Gretel erbleichen ließ.
Später am Abend, als Bruno im Bett lag, überdachte er noch einmal den Vorfall beim Abendessen. Er musste daran denken, wie nett Pavel an jenem Nachmittag mit dem Schaukelunfall zu ihm gewesen war, wie er die Blutung am Knie gestoppt und wie vorsichtig er die grüne Flüssigkeit aufgetragen hatte. Bruno wusste, dass Vater meistens ein guter und rücksichtsvoller Mensch war, fand es aber ungerecht und falsch, dass niemand Oberleutnant Kotler in seiner Wut auf Pavel gebremst hatte. Wenn solche Dinge in Aus-Wisch passierten, sollte er besser nichts und niemandem widersprechen; im Gegenteil, er würde gut daran tun, den Mund zu halten und kein Durcheinander zu stiften, denn es gab Leute, denen das missfallen könnte.
Sein altes Leben in Berlin kam ihm mittlerweile wie eine weit entfernte Erinnerung vor, und er konnte sich kaum noch entsinnen, wie Karl, Daniel und Martin aussahen. Er wusste nur noch, dass einer von ihnen ein Rotschopf war.
Kapitel vierzehn
Eine absolut vernünftige Lüge
Mehrere Wochen lang stahl Bruno sich weiterhin aus dem Haus, sobald Herr Liszt sich nach dem Unterricht verabschiedete und Mutter ihr Nachmittagsnickerchen hielt. Er legte den langen Weg am Zaun entlang zurück, um Schmuel zu treffen, der dort fast jeden Nachmittag auf ihn wartete, im Schneidersitz auf dem Boden saß und den Staub unter sich anstarrte.
Eines Nachmittags hatte Schmuel ein blaues Auge, und als Bruno ihn danach fragte, schüttelte er nur den Kopf und sagte, er wolle nicht darüber reden. Bruno ging davon aus, dass es eben überall brutale Kerle gab, nicht nur in Berliner Schulen, und dass sich
Weitere Kostenlose Bücher