Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
schaute über den Tisch zu seinem Sohn, der nur die Schultern zuckte, eine schlechte Angewohnheit von ihm.
»Weil es langweilig ist«, sagte er.
»Langweilig?«, sagte Vater. »Mein eigener Sohn nennt das Studium der Geschichte langweilig? Lass dir eines gesagt sein, Bruno«, fuhr er fort, beugte sich vor und zeigte mit dem Messer auf den Jungen. »Dass wir heute hier sind, haben wir dem Lauf der Geschichte zu verdanken. Wenn es keine Geschichte gäbe, würde keiner von uns jetzt an diesem Tisch sitzen. Wir säßen dann am Tisch in unserem Haus in Berlin. Aber hier korrigieren wir den Lauf der Geschichte.«
»Trotzdem ist Geschichte langweilig«, wiederholte Bruno, der gar nicht richtig zuhörte.
»Sie müssen meinem Bruder verzeihen, Oberleutnant Kotler«, mischte Gretel sich ein und legte ihm kurz ihre Hand auf den Arm, woraufhin Mutter sie mit zusammengekniffenen Augen anstarrte. »Er ist ein sehr ungebildeter kleiner Junge.«
»Ich bin nicht ungebildet«, schnauzte Bruno sie an, weil er ihre Beleidigungen satthatte. »Sie müssen meiner Schwester verzeihen, Oberleutnant Kotler«, setzte er höflich hinzu, »aber sie ist ein hoffnungsloser Fall. Ihr ist wirklich kaum zu helfen. Die Ärzte sagen, bei ihr ist Hopfen und Malz verloren.«
»Halt die Klappe«, sagte Gretel und lief knallrot an.
»Halt du die Klappe«, sagte Bruno und grinste breit.
»Kinder, bitte«, sagte Mutter.
Vater klopfte mit dem Messer auf den Tisch, worauf alle verstummten. Bruno schaute zu ihm hin. Er wirkte nicht direkt wütend, sah aber aus, als würde er keine weiteren Streitigkeiten dulden.
»Als ich ein kleiner Junge war, hat mir Geschichte großen Spaß gemacht«, sagte Oberleutnant Kotler nach kurzem Schweigen. »Und obwohl mein Vater Literaturprofessor an der Universität war, zog ich die Sozialwissenschaft den Geisteswissenschaften vor.«
»Das wusste ich gar nicht, Kurt«, sagte Mutter und wandte sich ihm kurz zu. »Unterrichtet er immer noch?«
»Das nehme ich an«, sagte Oberleutnant Kotler. »Ich weiß es nicht genau.«
»Aber das müssen Sie doch wissen!«, sagte sie und sah ihn stirnrunzelnd an. »Stehen Sie nicht in Kontakt zu ihm?«
Der junge Oberleutnant kaute auf einem Stück Lamm, und das gab ihm die Gelegenheit, sich eine Antwort zu überlegen. Er warf Bruno einen Blick zu, in dem Bedauern lag, dass er das Thema überhaupt angeschnitten hatte.
»Kurt«, wiederholte Mutter. »Stehen Sie nicht in Kontakt zu Ihrem Vater?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte er und zuckte abweisend die Schultern, ohne sich ihr zuzuwenden. »Er hat Deutschland vor ein paar Jahren verlassen. Neunzehnhundertachtunddreißig, wenn ich mich nicht irre. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Vater hörte kurz zu essen auf und musterte Oberleutnant Kotler mit leichtem Stirnrunzeln. »Und wohin ist er gegangen?«, fragte er.
»Wie bitte, Herr Kommandant?«, fragte Oberleutnant Kotler, obwohl Vater sehr deutlich gesprochen hatte.
»Ich fragte, wohin er gegangen ist«, wiederholte er. »Ihr Vater. Der Literaturprofessor. Wohin ging er, als er Deutschland verlassen hat?«
Oberleutnant Kotler errötete leicht und geriet ins Stottern, als er antwortete. »Ich glaube ... ich glaube, derzeit ist er in der Schweiz«, sagte er schließlich. »Als Letztes habe ich gehört, dass er an der Universität in Bern lehrt.«
»Ach, die Schweiz ist ein schönes Land«, sagte Mutter schnell. »Ich bin zwar nie dort gewesen, muss ich zugeben, aber nach allem, was man hört ...«
»Ihr Vater kann noch nicht sehr alt sein«, sagte Vater, und seine tiefe Stimme brachte alle zum Verstummen. »Ich meine, Sie sind erst ... wie alt? Siebzehn? Achtzehn?«
»Ich bin gerade neunzehn geworden, Herr Kommandant.«
»Dann dürfte Ihr Vater ... in den Vierzigern sein, schätze ich.«
Oberleutnant Kotler erwiderte nichts, sondern aß weiter, obwohl ihm das Essen allem Anschein nach überhaupt nicht mehr schmeckte.
»Seltsam, dass er sich gegen sein Vaterland entschieden hat«, sagte Vater.
»Wir stehen uns nicht nahe, mein Vater und ich«, sagte Oberleutnant Kotler rasch und warf einen Blick in die Runde, als schulde er jedem eine Erklärung. »Um ehrlich zu sein, wir haben seit Jahren kein Wort miteinander gewechselt.«
»Und was, wenn ich fragen darf, hat ihn dazu bewogen, Deutschland im Augenblick seines größten Ruhms und in einer entscheidenden Notlage zu verlassen, wenn es die Pflicht eines jeden ist, seine Rolle in der nationalen Wiederbelebung zu
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